Der Maler und das Modell

Ein Gemälde macht Karriere als Roman und Film, und jetzt erobert Jan Vermeers «Girl with a Pearl Earring» in Zürich auch die Opernbühne. Der Schweizer Komponist Stefan Wirth schrieb eine farbige Musik dazu.

© Toni Suter / Opernhaus Zürich

Ausgesprochen hübsch ist sie, die «Meisje met de parel», zweifellos sehr jung, sie trägt einfache Kleidung und einen exotischen Turban, ihre roten Lippen und runden Augen werden akzentuiert vom kunstvollen Perlen-Ohrring, die Vermeer alle drei malt, als seien es Studien zur Reflexion von Licht auf verschiedenen Oberflächen. Wir wissen nichts über sie. Der dunkle Bildhintergrund gibt nichts preis, weder über Identität noch über ihre Umgebung. Und auch der Maler, Jan Vermeer van Delft, niederländischer Barock-Meister, der kaum Portraits malte, hat keine Hinweise hinterlassen zu seinem Modell.

Das hat die amerikanische Schriftstellerin Tracy Chevalier animiert, die Geschichte einer Beziehung zwischen Maler und Modell zu erfinden und in einem 1999 erschienen Roman auszumalen. Das Buch wurde ein grosser Erfolg, und kam mit Scarlett Johannsen und Colin Firth in der Regie von Peter Webber 2003 auch auf die grosse Kino-Leinwand. Und jetzt hat es den Schweizer Pianisten und Komponisten Stefan Wirth zu seiner ersten Oper inspiriert.

Wirth ist wohl eher als Musiker bekannt geworden, als Mitglied des Zürcher Collegium Novum oder des Gershwin Piano Quartet zum Beispiel oder in manchen Bühnenproduktionen von Christoph Marthaler. Als Komponist konnte man von ihm bisher eher kleiner besetzte Stücke hören. In seiner Oper aber denkt Stefan Wirth vom ersten Takt an gross. Wir werden unmittelbar hineingeworfen in die Seelenlandschaft des Mädchens mit dem Perlenohrring, die Griet heisst und als Dienstmädchen im Haus Vermeer arbeitet. Ihr Sinn für Farben und die Komposition von Bildern fällt dem Meister auf, er gibt ihr Arbeiten im Atelier, und als ein wichtiger Kunde, der einen unzweideutigen Blick auf das hübsche Dienstmädchen geworfen hat, gerne ein Gemälde von ihr haben möchte, da malt er sie auch – mit den Perlenohrringen seiner Frau. Was diese natürlich nicht lustig findet, und die die Magd auf die Strasse stellt.

Wirth erzählt mit einer sehr hohen Energiedichte: Nicht nur die Szenen wechseln fast schneller als im Film, auch die Musik sucht alle paar Takte andere Ausdrucksbereiche, spielt mit impressionistischen Klangschichtungen, eruptiv aufgeladenen Akzenten, beschäftigt das ganze Spektrum der Orchesterinstrumente in idiomatischen Klangfarben und Spieltechniken, bezieht auch Geräusche mit ein oder Stilzitate, wie ein barockisierendes Cembalo-Solo.

Auch anderen fällt die Schönheit von Vermeers Magd auf.

Diese Musik ist zweifellos kurzweilig, und unter der Leitung von Peter Rundel liessen die Zürcher Orchestermusiker sie auch überaus farbig und suggestiv erstehen. Im Vergleich zur oft harmlosen Alltagssprache des Librettos wirkt sie aber bisweilen ziemlich übermotiviert. Das mental recht einfach gestrickte Mädchen muss unter der harmlosen Oberfläche geradezu emotional brodeln wie ein Vulkan, was man noch nachvollziehen kann, wenn sie sich in den Fleischerburschen verliebt, in Vermeers Atelier hinter die Geheimnisse seiner Kunst kommt oder sich knapp vor einer Vergewaltigung retten kann. Grosse Teile der Oper aber schildern einfache Alltagsszenen, und zu ihnen wirkt die Musik dann doch oft recht aufgedröhnt.

Für den Regisseur stellte sich zuallererst die Herausforderung, für diese raschen Szenenwechsel eine Bühne zu finden. Ted Huffman suchte sein Heil in einem gigantischen viertelrunden Element, das auf der Drehbühne von Andreas Liebermann praktisch ständig rotiert und hinter dem die jeweils neue Szene schnell und unkompliziert arrangiert werden kann. Üppige Ausstattungs-Details lässt dieses Konzept nicht zu, wir sehen also bloss in den Kostümen von Annemarie Woods ansatzweise die Gewänder aus Vermeers Bilderkosmos.

Sonst gibt es weder seine Gemälde noch die Gassen von Delft zu sehen, sondern bloss für wenige Minuten die gerne in flüssiger Aktion bewegten Figuren aus Vermeers Haushalt, wobei Wirth die Kinderschar in eine einzige Sopranstimme vereint, während die anderen bloss spielen. Lisa Tatin brillierte mit ihrem hohen, strahlkräftigen Sopran dabei, die höchsten Meriten aber verdiente sich Lauren Snouffer in der Titelrolle: Sie erhält kaum eine Pause, ist in fast allen Szene präsent. Diese Tour de Force absolvierte die vielseitige amerikanische Sopranistin bravourös, ohne die geringsten stimmlichen Ermüdungserscheinungen.

Dem Maler Vermeer lieh kein Geringerer als Thomas Hampson seine Stimme. Noch immer hat sein Bariton die Noblesse und die Geschmeidigkeit für eine anspruchsvolle neue Partie, und auch die Frau an seiner Seite war mit Laura Aikin, die ihre Klasse in den oft kapriziösen Linien aufblitzen liess, prominent besetzt.

Reinmar Wagner

Stefan Wirth: «Girl with a Pearl Earring». Opernhaus Zürich, Uraufführung: 3. April 2022. ML: Peter Rundel, R: Ted Huffman, mit Lauren Snouffer, Thomas Hampson, Laura Aikin, Liliana Nikiteanu, Yannick Debus, Irène Friedli, Iain Milne, Lisa Tatin.

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