Kolumne

Werbung

Nur diese Unmittelbarkeit – das ist Theater!

meike rundWenn keiner hinguckt, dann ist es kein Theater. Das, was die Bühnenkunst so besonders und unverzichtbar macht, ist die Tatsache, dass sich ihretwegen Menschen versammeln, eine Gemeinschaft bilden, die für zwei oder drei oder neun Stunden die Welt ist, in der wir augenblicklich leben. Das Augenblicksglück und das Eintrachtsglück, das waren für mich immer die entscheidenden Faktoren, weshalb ich dem Theater und der Oper treu blieb, obwohl andere Künste mich lockten, der Film zum Beispiel, die Literatur, die Bildende Kunst – aber einen Roman lesen, Musik hören, ein Bild anschauen, das kann man alles allein tun.
Doch wenn man in einer Welt lebt, in der digitale Techniken die Menschen mehr und mehr in die Vereinzelung treiben, dann ist man dankbar für jeden Anlass, der es uns erlaubt, einen Zusammenhang zu bilden mit anderen Menschen, ein Bündnis einzugehen, Teil einer Verabredung zu sein: Wir bleiben jetzt vier Stunden zusammen und sehen anderen Menschen dabei zu, wie sie ein Ensemble bilden, sich zusammentun, um uns eine Geschichte zu erzählen.
Und der Gipfel des Glücks, das ist immer der Moment, in dem der Vorhang fällt und das Licht wieder angeht und im Applaus sich die da oben und wir hier unten vereinigen, Schauspieler, Sänger und Zuschauer zueinander finden, um zusammen die Geschichte zu feiern, die uns alle zusammengeführt hat.
Schwer zu beschreiben, das Gefühl, das mich überfiel, als ich an einem Märztag die Nachricht hörte, dass alle Theater und Opernhäuser in Berlin und bald darauf auch alle Theater in Deutschland, Europa, in der ganzen Welt geschlossen werden müssen. Weil Menschenansammlungen infektiös sind. Weil der Pandemie nur der Rückzug in die Einsamkeit unserer vier Wände entgegengesetzt werden kann. Weil wir nur gesunden können, wenn wir uns von anderen Menschen fernhalten. Insofern kann man sagen, dass Corona nicht nur ein theaterfeindlicher Virus ist, sondern ein gesellschaftsfeindlicher. Obwohl ich nicht glaube, dass Viren feindselig sind. Aber die Konsequenz ihrer Existenz und Verbreitung verhindert jede Form von Zwischenmenschlichkeit.
Natürlich dauerte es nicht lange, bis der per Gesetz verordnete Verzicht auf soziale Kontakte vom Zeitgeist adaptiert wurde: So wie das hässliche Wort Ausgangssperre umgehend durch den nach Freiheit und Abenteuer klingenden Anglizismus Lockdown ersetzt wurde, verwandelte sich unser Rückzug in die garantiert coronafreien heimischen vier Wände in etwas, was wie ein neuer Freizeitsport klingt: Social Distancing.
Und natürlich explodierte über Nacht die Zahl der digitalen kulturellen Angebote. Auch das Theater suchte im digitalen Raum nach neuen Entfaltungsmöglichkeiten, die von Kulturoptimisten sogleich als sozialmediale Experimente gefeiert wurden. Doch diese Versuche, das Theatererlebnis zu digitalisieren, sind zwar rührend in ihrem Bemühen, das Theater zu bewahren und an seine Existenz zu erinnern – sie scheitern jedoch allesamt an einer nicht umzudeutenden Wahrheit: Was ins Internet transferiert, multimedial reproduziert und digital verfügbar gemacht wird – das kann nicht mehr Theater sein. Denn das ureigentliche Wesen des Theaters ist seine Nichtreproduzierbarkeit. Im Theater ist alles immer JETZT – und mit dem nächsten Lidschlag schon Vergangenheit. Das Wort unmittelbar drückt alles aus, was das Theater ist und will und kann. Und jeder Versuch, das Theater zu medialisieren, es also vermittelbar zu machen, ist per se absurd. So wie jeder Gottesdienst, jede Sportveranstaltung, jede Trauerfeier, jede Demonstration oder Parlamentsdebatte nicht in ein digitales Format übersetzbar ist, so ist auch das Live-Erlebnis einer Theater- oder Operninszenierung nicht abkoppelbar, ohne dass diese dem unmittelbaren Erleben verhaftete Kunstform Schaden nimmt, verloren geht.
Nachdem der Österreichische Rundfunk die von Oscarpreisträger Christoph Waltz inszenierte und bereits ohne Publikum gespielte «Fidelio»-Premiere am Theater an der Wien live aufgezeichnet und übertragen hatte, gab es viel Applaus und Zustimmung für diese Form der Darbietung. Daraufhin meldete sich der Theaterregisseur Ulrich Rasche zu Wort und wandte sich energisch gegen einen Journalismus, der «uneingeschränkt bejahend mit der technischen Reproduzierbarkeit einer Theateraufführung umgeht, die ihre Qualität in der Gegenwärtigkeit ihrer Ausübung begreift». Das sei «nicht nur dumm, sondern gefährlich, nicht nur weil es uns allen die Existenzgrundlage nimmt, sondern weil es das Theater selbst beschädigt und womöglich langfristig zerstört.» Die Heftigkeit seiner Reaktion versteht jeder, der schon einmal eine Inszenierung von Ulrich Rasche gesehen hat – und zwar live.
Die ungeheure Suggestivität, die Rasches Aufführungen eigen ist, resultiert aus ihrer alle Sinne fordernden Ausdruckskraft. Ihre offensive Sinnlichkeit überträgt sich auf den Zuschauer und wird im Verlauf von drei bis vier Theaterstunden zunehmend verdichtet, so dass das, was zunächst nur sichtbar und hörbar ist, auch spürbar wird, körperlich erfahrbar. Am Schluss seiner jüngsten Inszenierung von Sarah Kanes «Psychose 4.41» am Deutschen Theater Berlin spürte ich jeden Schritt der Schauspielerinnen und Schauspieler, jedes ihrer Worte, wie eine fortwährende Vibration, ein rhythmisches Zittern, ein gewaltiges Pulsieren: Die Aufführung ging mir unter die Haut, sie ergriff Besitz von meinem Körper, die eskalierende Verzweiflung, von der sie erzählte, wurde für mich physisch erfahrbar.
Zu keinem Zeitpunkt während einer Theater- oder Opernaufführung verliere ich das Bewusstsein dafür, dass die Menschen, die vor mir auf der Bühne leben, lieben, lachen, leiden, sich mit mir im selben Raum befinden. Verfolge ich hingegen eine Aufführung per Live Stream im Internet, verstehe ich nicht mehr, was sie mir sagen will. Ich habe die unmittelbare Beziehung zu ihr verloren. Und nur diese Unmittelbarkeit – das ist Theater!
Vielleicht birgt diese Zeit des Social Distancing, diese hoffentlich bald endende Zeit des Verlusts der menschlichen Nähe und damit des Verlusts unserer gelebten Kultur, eine Chance für uns alle: Dass wir begreifen, wie unersetzbar wichtig für uns alles ist, was sich nicht medial verwerten lässt – oder, wie René Pollesch es sagen würde: was sich jeder «Verwertungslogik» entzieht. Und das Theater könnte sich neu erfahren als das, was es im Wesentlichen ist. Ein Ort, an dem Menschen einander näherkommen. Hier und Jetzt.


Mehr Wut wagen!

In memoriam Johann Kresnik, oder: Gedanken zu einer Künstler-Generation, die einst gefeiert wurde.

21521_meike_2Als im vergangenen Juli Johann Kresnik starb, der Geburts- und Entwicklungshelfer des zeitgenössischen Tanztheaters, blinkte in der sintflutartigen Schwemme von Nachrufen immer wieder ein signalrotes Wort auf, ohne das niemand auskommt, der die radikal menschenfreundliche Widerstands-Kunst des Kärntner Tanzkunstanarchisten beschreiben will: WUT.

Nicht Zorn, wohlgemerkt, denn Zorn ist die noblere Variante der Wut, er beruft sich auf eine höhere Ordnung, ein moralisches Prinzip, ein heiliges Gesetz, das gebrochen wurde. Zorn ist die Wut der Götter, Kresnik aber war ein Anwalt des Menschen, des einzelnen, gottverlassenen, verletzlichen und zerbrechlichen Menschen. Als Freischärler zwischen allen Fronten widersetzte er sich Gesinnungsterror, ideologischem Fanatismus und systematischer Gewalt, um die Antastbarkeit der menschlichen Würde anzuprangern. Die wutentbrannte Radikalität des Künstlers Johann Kresnik war dabei untrennbar verbunden mit der enragierten Rigorosität des Menschen Johann Kresnik.

Das erfuhr ich höchstpersönlich, als ich vor annähernd 30 Jahren ein Interview mit ihm führte – woraus sich die intensivste, aufrichtigste, unmittelbarste Begegnung entwickelte, die mir je mit einem Künstler vergönnt war. Tief beeindruckt von Kresniks rückhaltloser Offenheit und Direktheit und völlig verblüfft von seiner offensiven, unverkleideten Menschlichkeit schrieb ich damals: «Johann Kresnik ist ein Mensch, der sich – in der Arbeit wie im Gespräch – bis zur Selbstpreisgabe verausgabt, der seine Bilder-Blitze und Donner-Worte aus keiner Deckung herausschleudert, sondern im Angriff entschlossen die Defensive verlässt: offenherzig, unverstellt und verfänglich, ohne Hinterlist und Vorbehalt. Und deshalb ebenso verwundbar wie schlagfertig.»

Nein, das hier soll kein verspäteter Nachruf sein, sondern ein Appell an das Gegenwartstheater, den Mut zur Wut nicht vollends zu verlieren. Denn die Theater-Generation, der Kresnik angehörte, wird neuerdings pauschal verurteilt und abgestempelt: Die alten weissen Männer, so will es der nach Gendergerechtigkeit und Multikultur strebende Zeitgeist, sind das beliebteste Feindbild der selbsternannten Bessermenschen – und deshalb sind sie an allem schuld. Sie haben einen hirn- und herzlosen Menschenrechtsverletzer zum mächtigsten Mann der Welt gewählt. Sie haben den Feminismus ausgebremst und Jahrhunderte lang die Frauen an den Küchenherd gefesselt oder auf die Besetzungscouch genötigt. Sie haben die Erde geschändet und ausgebeutet. Sie haben die Welt beherrscht, misshandelt, vergewaltigt, mit Krieg und Terror an den Rand des Untergangs getrieben. Und sie sind schuld daran, dass das Theater noch im 21. Jahrhundert eine trutzige Männerhochburg ist, die Frauen allenfalls erlaubt, sich inszenatorisch mit Frauenthemen zu beschäftigen, mit jenen Themen also, für welche die Männer sich nicht interessieren.

Sie stirbt nun aus, die Generation dieser Männer, Johann Kresniks Generation, die einst gefeiert wurde, weil sie das Theater reanimierte, politisierte und revolutionierte. Weil sie das Theater neu erfand und ihm gesellschaftliche Relevanz und Anerkennung verlieh. Denn diese alten weissen Männer waren wütend, und mit ihrer aufrührerischen Wut, mit ihrem tollkühnen Furor brachten sie die deutschsprachige Bühnenlandschaft zum Beben. Nicht bei allen Regisseuren dieser Aufbruchszeit war die Wut ein Ausdruck des selbst erlittenen Schmerzes. Nicht alle waren so traumatisiert wie Johann Kresnik, der mit drei Jahren auf dem Schoss seines Vaters sass, als slowenische Partisanen ins Haus stürmten und ihn, der doch einer von ihnen war, ein Kommunist, ein Genosse, in den Kopf schossen – weil er zur Wehrmacht eingezogen worden war und deshalb die verhasste Uniform trug. Oder wie Peter Zadek, der als Kind einer jüdischen Familie 1933 seine Heimat in Berlin verlassen und mit seinen Eltern nach London emigrieren musste.

Auch Peter Stein und Claus Peymann, Hans Neuenfels und Luc Bondy waren als Menschen und Künstler geprägt von der Schmerzwut des apokalyptischen 20. Jahrhunderts, einer Wut, die nicht Unmut oder Unwille war, sondern das genaue Gegenteil: Eine emotionale Offensivkraft äusserte sich sowohl in Bondys Edelboulevardtheater wie in Steins akribischem Realismus oder in Neuenfels‘ freudianischem Hyperrealismus. Und selbst ein eher konventioneller Regisseur wie Claus Peymann machte (zumindest am Wiener Burgtheater) furioses Theater, weil er sich mit den tollwütigsten und tobsüchtigsten Künstlern Österreichs verbündete, mit Thomas Bernhard und Peter Handke, Elfriede Jelinek und Peter Turrini.

Doch im Nach-Repräsentations-Theater gibt es nicht nur keine Wut mehr, auch alle anderen Gefühle wurden demontiert, entsorgt, per Ironie entschärft. Das Gesicht des Gegenwartstheaters lacht und weint nicht, es ist gezeichnet von einer schmerzresistenten Uneigentlichkeit, und sein emotionales Ausdrucksrepertoire beschränkt sich dementsprechend auf skeptisch zuckende Augenbrauen und spöttisch verzogene Mundwinkel. Ansonsten wahrt es seine ewiggleiche, von Ignoranz und Indolenz geprägte Pokerface-Mimik.

1990, als Kresniks «Ulrike Meinhof» in Bremen uraufgeführt wurde, stand ich inmitten der nichtendenwollenden Ovationen, die einem Tränenmeer glichen, so viele Zuschauer hatten ihre Taschentücher gezückt oder liessen ihrer Berührtheit freien Lauf. In der leisesten und schönsten Szene der Aufführung tanzte Amy Coleman als Ulrike Meinhof mit vier winzigen Kinderschuhen, die schliesslich allein im Scheinwerferkegel zurückbleiben, ein Bild, das sich eingebrannt hat in mein Gedächtnis, nicht nur, weil während dieser Szene eine Frau im Publikum laut aufschluchzte: Ulrike Meinhof hatte zwei Töchter, Zwillinge, die sie für ihre zwangsläufig in den Unter- und Abgrund führende politische Mission aufgeben musste.

Eine solche Szene wäre heutzutage auf einer Bühne undenkbar, weil sie mittlerweile als hochgradig politisch inkorrekt gelten würde: als gefühlsmanipulierender Klischee-Kitsch, der Frauen dazu animieren solle, ihren Beruf oder ihre Berufung aufzugeben und stattdessen ihrem Muttertrieb zu folgen. Wie würde Johann Kresnik, der so viele bewegte und bewegende Frauenportraits tänzerisch auf die Bühne gebracht hat, der sich für Frida Kahlo und Silvia Plath, für Rosa Luxemburg und selbst für Hannelore Kohl starkmachte, auf die dogmatischen Anfeindungen der Political Correctness reagieren? Ich vermute, er würde toben vor Wut. Und es macht mich traurig, dass ich diese zutiefst menschliche, kompromisslose, aufrechte, sich keiner Regel, keinem Gesetz und keinem Urteil beugende künstlerische Wut mutmasslich auf keiner Bühne mehr hören und sehen werde. Mehr Mut zur Wut zu wagen – das würde ich mir von unserem gefühlsbereinigten Theater dringend wünschen.

Meike Matthes


Dagegen halten!

Ein im Lauf der Zeit erkämpftes und aufgebautes Kulturverständnis, das bei uns immer auch demokratisch legitimiert und gestärkt wurde, gerät heute zusehends unter Druck. Sich dagegen aufzulehnen ist mehr als angesagt!

IMG_5306 2Kulturelle Vielfalt, ein Geschehen, das die unterschiedlichsten Sparten, ideellen Ausrichtungen und künstlerischen Formulierungen einschliesst und fördert – so sind wir es uns gewohnt. Diese Freiheit wird uns geboten und sehr oft erst dank öffentlicher Gelder ermöglicht. Offenes Denken, das bewusste Miteinbeziehen bislang fremder, auch unbekannter Kunstformen sind uns wichtig. Wir nehmen es als Anregung auf, überlieferte Selbstverständlichkeiten zu überdenken, uns aus der bequemen Komfortzone des blossen kulturellen Konsums hinaus zu bewegen. Vor allem in den deutschsprachigen Ländern hat sich ein solcherart offenes und freies Kulturverständnis breit durchgesetzt – und ein reiches Netzwerk an Institutionen ermöglicht und geschaffen, die für ein vielfältiges, freies Kulturangebot stehen: Ob Theater, Museen, Orchester, Opernhäuser, Festivals oder Tanzplattformen, ob eher konventionell oder experimentierfreudig, ob historisch ausgerichtet oder mit neuen Ausdrucksformen spielend – alle zusammen stehen für eine lebendige Kulturszene, die auch kleinere Orte belebt und bereichert. Genau dieses im Lauf der Zeit aufgebaute und erkämpfte Kulturverständnis, das bei uns auch immer demokratisch legitimiert und gestärkt wurde, gerät nun zusehends unter Druck. Zum einen, weil vielerorts die Finanzen der Kommunen ausdünnen, zum andern weil der Wille, sich diese Breite an Kultur zu leisten, erodiert. Auch politisch unterwandert und sabotiert wird. So dokumentiert uns etwa das aktuelle Regierungsprogramm der sächsischen AfD, woher der Wind künftig wehen könnte. Es ist darin zu lesen: «Kultur darf kein Tummelplatz für soziokulturelle Klientelpolitik sein.» Dann wird die Forderung konkret: «Wir wenden uns gegen ein einseitig politisch orientiertes, erzieherisches Musik- und Sprechtheater, wie es derzeit auf sächsischen Bühnen praktiziert wird.» Dagegen ist aufzustehen und zu kämpfen! Damit ein solch abgrenzendes, jede künstlerische Fragestellung und jede kreative Neuausrichtung einschüchterndes Denken keinen Nährboden findet, damit die Bedeutung einer offenen, freien Kulturszene auch künftig von einer Mehrheit als wesentlich für unser Leben, für unser soziales Zusammenleben erkannt wird.

Andrea Meuli


Nach-Spiele

Oft genügt schon der erste Blick aufs Programmheft, und man weiss, was gespielt wird. „Hamlet“, okay, aber: Von oder nicht von, das ist hier die Frage. Denn immer häufiger ist es kein Hamlet von  Shakespeare, sondern nach Shakespeare, und das ist ein beträchtlicher Unterschied.

Eine Kolumne von Meike Matthes

Wenn der Zuschauer Glück hat, erkennt er das Stück wieder, mit dessen um sich selbst kreisenden Monologen er einst im Unterricht gequält wurde. Wenn er Pech hat, sucht er vergeblich nach Handlungsfäden und Sinnzusammenhängen, denn nachbedeutet: Nicht Shakespeare hat an diesem Abend das Sagen, sondern der Regisseur, und er wird uns alles offenbaren, was ihm zu diesem Stück einfällt – aber was heisst hier Stück? Eine literarische Form, eine Dramaturgie oder wenigstens ein wiedererkennbarer Plot werden begraben unter Assoziationen und Anekdoten, weitschweifigen Diskursen und ausufernden Slapsticks, denn das Dänenprinz-Drama ist nun kein Drama mehr, sondern ein Text-Steinbruch, ein Materialschlachtfeld, eine beliebig bebilderte Gedanken-Collage – oder, wie die aus der Demontage resultierende Nicht-Form sich im allgemeinen nennt: eine Performance.

Wenn man der konservativen Ansicht ist, dass Kunst bedeutet, Inhalt und Form in eine zwingende, klingenden Beziehung zu setzen, in einen harmonischen oder auch disharmonischen Einklang zu bringen, sollte man sich keine Aufführung antun, die darauf beharrt, nachTschechow, Schiller, Ibsen ihr eigenes Ding zu machen. Denn dieseNach-Spiele können in ihrem Kunstzertrümmerungstrieb qualvoll sein. Wen es in eine Thalheimer-Aufführung verschlägt, darf darauf hoffen, nach 90 bis 120 Minuten wieder entlassen zu werden, denn dieser Regisseur ist ein Konzentrator, er zersetzt das Stück nicht, sondern verdichtet es. Wer aber in einer Castorf-Inszenierung gestrandet ist, befindet sich für mindestens fünf Stunden in Geiselhaft, ganz egal, ob der Textrohstoff ein kleines Brechtsches Lehrstück oder ein wuchtiger Dostojewski-Roman ist. Denn so eine Demontage-Performance zeichnet sich durch ihre Grenzenlosigkeit aus, der Gedankenspielraum eines Regie-Theater-Artisten ist ein expandierendes Weltall, ein zielloser, von Abwegigkeiten zersplitterter Ego-Trip. Wer war noch mal Shakespeare? Das ist hier nicht die Frage.


Theater zum Verlieben

Wie gutes Theater jede vom Dramatiker mit Text unterversorgte Schatten-Existenz in eine sonnenverwöhnte Orchidee verwandeln kann

meike rundMeike Matthes

Mein Erster war Camille. Er war anders als die anderen gescheiterten Weltverbesserer, die mit narzisstischen Schwanengesangs-Litaneien ihren eigenen Untergang zelebrierten. Unter den Revolutionären, die sich in selbstmitleidtrunkener Redseligkeit auf ihren Gang zum Schafott vorbereiteten, war er der stillste, jüngste, unschuldigste, emotionalste und – zweifellos – hübscheste Mann. Der einzige, der wahre Worte sprach, statt grosse Töne zu spucken: «Höre Danton, unter uns gesagt, es ist elend sterben müssen.» Der einzige, der von seinen ko-revolutionären Leidensgenossen ausschliesslich beim Vornamen genannt wurde oder zärtlich «mein Junge». Und mir wurde schnell klar: Dabei hatte sich Büchner etwas gedacht.

Ich hätte das Stück ja «Camilles Tod» genannt, aber ich wusste, der 21-jährige Medizinstudent Georg Büchner, selbst politisch agierend und agitierend und deshalb auf der Flucht vor einer drohenden Verhaftung, brauchte das Geld und deshalb einen plakativen verkaufsfördernden Titel. Für mich allerdings war dieser märtyrerphrasendreschende Fatalismus-Fetischist Georges Danton mitsamt seiner künstlerisch wertvollen Thermidor-Misere nicht wirklich ein Protagonist von Interesse.

Ich war 15 Jahre alt, und ich liebte, wie meine Freundinnen Leonard Cohen liebten oder David Bowie, den fiktiven, seinem historischen Vorbild entwachsenen französischen Revolutionär Camille Desmoulins. Weil er auf meiner Kopf-Bühne als berührend idealistischer, lebenskluger Kindmann auferstand. Vor allem aber, weil er in meiner Vorstellungswelt ein reiner Mensch war, herzzerreissend zerbrechlich, seine Angst vor dem Tod nicht hinter grossmäuligen sarkastischen Bonmots verbergend.

Er war die erste Theaterfigur, an die ich mein Herz verschenkte und mich gleichzeitig unsterblich ins Theater verliebte: Camille, der von allen geliebt wurde, am meisten aber von seiner Frau Lucile, der schönsten Frauenfigur, die Büchner in seiner kurzen steilen Literatenkarriere erschaffen hatte. Und so kauerte ich auf dem bizarr gemusterten 70er-Jahre-Teppich meines mit Büchern vollgestopften, winzigen Jungmädchenzimmers, stellte mir vor, auf den blutbefleckten Stufen der Guillotine zu sitzen, presste das schon arg zerfledderte Reclam-Heftchen inbrünstig an meine Brust und flüsterte mit überfliessenden Augen: «Es darf ja alles leben, alles, die kleine Mücke da, der Vogel. Warum denn er nicht? Der Strom des Lebens müsste stocken, wenn nur der eine Tropfen verschüttet würde.»

Es ist gefährlich, sich in Theaterfiguren zu verlieben, zumal, wenn man beschliesst, diese Liebe zum Beruf zu machen. Ich habe unzählige «Dantons Tod»-Inszenierungen gesehen, doch keine einzige, in der ich meinen Camille entdeckte. Immer war er nur einer von vielen ausrangierten Ex-Revoluzzern, die mit befremdlicher Eloquenz ihrer Hinrichtung harrten. «Konzentriert Euch auf Camille!» hätte ich am liebsten dem Regietheater zugerufen, denn Dantons – beziehungsweise Büchners – Schlüsselsatz: «Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder» konnte sich doch nur auf IHN beziehen, dessen leibhaftige, liebenswerte Unschuld für mich die geschändete «Brüderlichkeit», also Menschlichkeit, personifizierte, die den Schlachtrufen nach «Freiheit» und «Gleichheit» geopfert wurde.

Man neigt dazu, fixe Ideen zu entwickeln, wenn man sich in Menschen verliebt, die nur in der eigenen Phantasie ein betörendes Dasein führen. Besser wäre es, mit offenem Herzen in eine Aufführung zu gehen und abzuwarten, wohin der Regisseur unser amouröses oder gar libidinöses Interesse lenkt. Denn das ist ja gerade das Spannende am Theater: Es macht, wenn es gut ist, aus Figuren Menschen und kann mit purer Schauspielkunst jedes Mauerblümchen, jede vom Dramatiker mit Text unterversorgte, nur als Erfüllungsgehilfe der Tragödienmechanik dienende Schatten-Existenz, in eine sonnenverwöhnte Orchidee verwandeln. Oder, schöner noch, in eine Rose, die auch im Winter blüht.

Zum Beispiel Jack the Ripper. In Peter Zadeks legendärer «Lulu»-Inszenierung spielte Uwe Bohm den finalen Frauenvernichter mit einer so sanften, liebevollen Zärtlichkeit, dass man sich brennend wünschte, er würde das Messer einfach wegwerfen, Susanne Lothars geschundenen Lulu-Leib in seinen wärmenden Mantel hüllen und das sein, was er eigentlich sein wollte und sollte: Lulus einzige grosse Liebe. Es kam anders, natürlich.

Oder der Maurerpolier Paul John in Gerhart Hauptmanns «Die Ratten», der seine Frau durch den Wunsch nach einem Sohn dazu treibt, einem in unglückliche Umstände geratenen Dienstmädchen erst das Kind und dann das Leben zu nehmen. Bei Hauptmann ist «Vaddern», wie ihn seine Frau nennt, ein nörgelnder Proll, der nicht viel zu sagen hat. Michael Thalheimer aber besetzte ihn mit dem charismatischen, viel zu früh gestorbenen Schauspieler Sven Lehmann und stellte, beziehungsweise setzte, diesen buchstäblich mitten ins emotionale Zentrum seiner Aufführung, wo er unüberhörbar leise und unübersehbar trostlos um sein totes Kind trauerte, das in anderen «Ratten»-Inszenierungen gern vergessen wird. Am Schluss dieser unvergesslichen Aufführung war ich hoffnungslos verknallt in einen Maurerpolier.

Überhaupt ist mir aufgefallen, dass mein Begehren so gut wie nie von einem Hauptdarsteller entflammt wird, sondern immer von den «Supporting acts». Sehr häufig sind es die tragisch umflorten Buffoparts, um die herum sich die erogene Zone einer Aufführung bildet. Als ich meine 22-jährige Tochter nach ihrer Lieblings-Theaterfigur fragte, sagte sie, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken: «Mercutio. Der ist hot.» Treffer! Auch ich fühlte mich nie vom Süssholzraspler Romeo angezogen, sondern von seinem ungleich attraktiveren besten Freund mit dem undankbaren tragödienbedingten Auftrag, sich für ihn zu opfern.

Der Sex-Appeal Mercutios resultiert eindeutig aus seiner die Lebenslust steigernden Todesnähe, seiner moribunden Vitalität. Auf der Bühne habe ich ihn nur einmal so erlebt, wie ich ihn mir vorstelle: Witzig. Ernst. Klug. Sinnlich. Cool. Hot. So spielte und verkörperte ihn der Schauspieler, Autor und Regisseur Wolfgang Maria Bauer 1993 in Leander Haussmanns Inszenierung am Münchner Residenztheater, und sein vor todesverachtender Sinnlichkeit strotzender Mercutio war, hier ist das Wort wirklich berechtigt: Kult. Fast wäre ich Camille untreu geworden, den ich bislang ja noch nicht einmal kennengelernt habe. Aber demnächst, in welchem Theater, in welcher Aufführung auch immer, werde ich ihm begegnen. Und es wird Liebe sein. Oder, das würde mir ja schon reichen: Theater zum Verlieben.