Abschied eines Magiers
Jean Sibelius wird bis heute unter Wert gehandelt: Das mag an Adornos abschätzigem Urteil liegen, hat gewiss auch mit seiner eigenwilligen Musiksprache zu tun, die sich der deutsch-österreichischen Tradition, aber auch den damals herrschenden Trends weitgehend verweigerte. So fanden seine Sinfonien erst in den letzten Jahren in unseren Zonen zunehmend Beachtung. Jetzt hat der erfahrene finnische Dirigent Okko Kamu die völlig unbekannte Schauspielmusik zu Shakespeares «Der Sturm», die Sibelius im Auftrag des Königlichen Theaters in Kopenhagen im Jahr 1925 als sein letztes grosses Werk komponierte, in einer in jedem Detail vorbildlichen Gesamteinspielung mit Solisten, Chor und dem Orchester der «Royal Danish Opera» herausgebracht und damit dieses verkannte Opus überhaupt erst bekannt gemacht. Der damals 33-jährige Sibelius hat hier in 34 meist kurzen, sehr konzentriert gearbeiteten Musik-nummern praktisch alle Register seines weitgespannten stilistischen Horizonts gezogen und dabei die Zauberkräfte des finalen Inseldramas Shakespeares in ei- ner verwirrenden Vielfalt von musikalischen Stimmungsbildern und Gesängen in Klang gesetzt, sodass Shakespeares dramatische Intentionen auf wundersame Weise verdichtet und intensiviert werden. Und so wie der englische Theaterfürst sich hier am Ende von den Zauberkräften Prosperos endgültig löst, so feiert auch der finnische Magier Sibe- lius hier Abschied von seinen musikalischen Zauberkräften und verstummt für die restlichen 32 Jahre seines Lebens. Insofern markiert dieser stürmische Abschied einen der Höhepunkte seines Schaffens und entfesselt gleich in der einleitenden Ouvertüre einen See-sturm von beängstigender Intensität. In fünf dem Luftgeist Ariel gewidmeten «Songs» glänzt die dänische Mezzoso-pranistin Hanne Fischer, während der 76-jährige Okko Kamu das exzellente Orchester feinfühlig und souverän durch die abenteuerliche Partitur lotst.
Attila Csampai
Sibelius: «The Tempest». Fischer, Nielsen, Bjellsäter, Knudsen, Elsberg, The Royal Danish Opera Chorus and Orchestra, Okko Kamu. Naxos 8.574419
Neue Monteverdi-Oper?
Im Sommer 2021 beschloss Andreas Reize seinen Monteverdi-Zyklus auf Schloss Waldegg mit der «Poppea». Interessant und verdienstvoll, an diesem Ort den ersten Grossmeister der Oper derart umfassend auf einer sommerlichen Open-Air-Bühne zu präsentieren. Was die Produktion aber zur Sensation macht, ist die Fassung, die Reize dafür nicht nur ausgrub, sondern in weiten Teilen auch eigenhändig erst überhaupt rekonstruieren musste. Zwar war längst bekannt, dass es neben der Fassung für Venedig auch eine – ziemlich unterschiedliche – für Neapel gab, etliche Interpreten hatten sich Filetstücke daraus auch schon in ihre Interpretationen übernommen. Aber als Ganzes gab es die Version für Neapel bisher nicht, weder als Edition noch als Aufnahme. Mindestens die zweite dieser Lücken – für die erste fehlte die Zeit bisher – schliesst die sorgfältig realisierte CD-Produktion, die Reize – aktuell auch Thomas-Kantor in Leipzig – mit seinem Ensemble «Cantus Firmus Consort» mit den Erfahrungen der Aufführungen im Studio realisierte. Live musste die Oper zeitlich noch arg gestrafft werden; auf nicht weniger als vier CDs mit vier Stunden Spieldauer ist nun eine vollständige Version verfügbar, und das gleich auf einem Niveau, das Referenz-Status für sich beanspruchen kann. Das betrifft zum einen die Solisten rund um das schliesslich triumphierende Herrscher-Paar Pia Davila und Elvira Bill, das durch sein sehr ähnliches Timbre schon von Anfang an Harmonie ausstrahlt. Auch neben den beiden verschenkt das Ensemble nichts an dramatischem, historisch informiertem Barockgesang. Zum anderen gilt Bewunderung in besonderem Mass dem Orchester, das selbstverständlich auf barocken Instrumenten spielt. Das überaus farbig und reich besetzte Continuo-Ensemble setzt ein ums andere Mal ganz spezielle Akzente und spielt und improvisiert sich lustvoll durch diese grandiose Partitur, die immer wieder so komplett verschieden klingt von der bekannten «Poppea»-Fassung, dass man fast von einer ganz neuen Monteverdi-Oper sprechen mag.
Reinmar Wagner
Monteverdi: «L’Incoronazione di Poppea» (Fassung Neapel). Pia Davila, Elvira Bill, Geneviève Tschumi, Jan Börner, Lisandro Abadie, Kathrin Hottinger u. a. Cantus Firmus Consort, Andreas Reize. Rondeau ROP623738-4 (4 CDs)
Liebeskummer und Weltschmerz
Schon mit dem «Notturno» für Streichquartett und Stimme hatte der Bariton Christian Gerhaher sich für den unterschätzten Lied-Komponisten Othmar Schoeck eingesetzt. Jetzt folgt der Lieder-Zyklus «Elegie» für Stimme und 15-köpfiges Kammerensemble, das hier aus Musikern des Kammerorchesters Basel unter Heinz Holligers Leitung zum perfekten Partner für den wiederum nuancenreich und sprachlich herausragend singenden Gerhaher avanciert. Die 24 Lieder, die Schoeck 1923 wohl in tiefer Liebesverzweiflung auf ausgewählte Gedichte von Lenau und Eichendorff komponierte, verlassen zwar die Tonsprache der Spätromantik kaum. Dennoch sind sie kein Hochfest blühender romantischer Liedkunst, sondern subtil und sparsam instrumentierte Zeugnisse von Liebeskummer und Weltschmerz. Was dem Zyklus seine Schwere gibt, ist die praktisch nie ändernde depressive Stimmung. Die Referenz an Schuberts «Winterreise» ist überdeutlich, aber noch weniger als bei Schubert gibt es hier Momente es Lichts und der Freude. Es ist ein Strudel aus dunklen und depressiven Gedanken, an dessen Ende nur der Tod stehen kann. Gerhaher sucht und findet sehr viel Dunkel und Schatten in diesen Liedern, ohne dabei plakativ oder demonstrativ zu werden, das Orchester begleitet überaus subtil und klanglich vielschichtig.
Reinmar Wagner
Othmar Schoeck: Elegie. Christian Gerhaher (Bariton), Kammerorchester Basel, Heinz Holliger. Sony 19439963302
Ein explosives Duo
Sie sind gute Freundinnen, obwohl sie recht unterschiedliche Persönlichkeiten sind, Patricia Kopatchinskaja und Sol Gabetta. Seit Jahren treten sie zusammen auf, letztes Jahr waren sie im Doppelkonzert des spanischen Komponisten Francisco Coll (Alpha 580) auch erstmals zusammen auf CD zu hören, begleitet von der Camerata Bern. Dass sie auf eine Begleitung auch völlig verzichten können, zeigt nun ihre neuste CD: Duos für Geige und Klavier. Ein Stück von Coll ist auch wieder mit dabei, und ja, auch der «Klassiker» für diese Besetzung, die Sonate für Geige und Cello von Ravel spielen die beiden fulminant, dazu auch eine rhythmisch aufgeladene Version des Duos von Kodaly und eher entspannte Duette von Leclair oder CPE Bach. Wobei entspannt bei diesem explosiven Duo immer relativ zu sehen ist: Patricia Kopatchinskaja findet stets haufenweise Gelegenheiten für Töne, die nicht dem allenfalls erwarteten Kuschelklassik-Sound entsprechen, und Sol Gabetta lässt sich nur allzu gerne davon anstecken. Bemerkenswert aber auch, wie sie in diesem überaus abwechslungsreichen Programm zeigen, dass auch zeitgenössische Komponisten – Jörg Widmann, Ligeti, Xenakis oder Julien-François Zbinden – ganz unterschiedliche und auf ihre Weise hoch interessante Ideen für diese Besetzung mit bloss zwei Streichinstrumenten entwickelt haben.
Reinmar Wagner
«Sol & Pat». Werke von Leclair, J. S. Bach, CPE Bach, Ravel, Widmann, Coll, Zbinden, Markowicz, Ligeti, Kodaly und Xenakis. Alpha 757
An seinem virtuosen Nonett arbeitete Nino Rota 18 Jahre lang und schuf da ein geradezu charismatisches, melodisch-tonales Werk, das die wichtigsten Strömungen seiner Zeit in neoklassizistischer Frische verarbeitet. Deutlich spröder und experimenteller klingt das 1941 von Hanns Eisler in Mexiko komponierte Nonett Nr. 2, das in zehn kurzen Spots tragische Konflikte in einem mexikanischen Dorf ausleuchtet. Als eines seiner letzten Werke komponierte Bohuslav Martinu 1959 sein Nonett Nr. 2 als glühende Hommage an seine verlorene Heimat Tschechien: ein energisches, von starken Gefühlen und Wehmut durchpulstes Werk. Überall überzeugen die belgischen Topmusiker durch ihre Stilsicherheit, ihre Herzensintensität und Spielfreude, die sehr schön die Balance hält zwischen wechselnden individuellen Akzenten und einem natürlich gewachsenen Ensemblegeist.
Attila Csampai
Nonette von Nino Rota, Hanns Eisler und Bohuslav Martinu. Oxalys. Passaccaille PAS 1103
Im zarten Alter von 15 Jahren dirigierte Riccardo Chailly erstmals ein Werk von Strawinsky. Fortan sollte ihn dessen Œuvre kontinuierlich begleiten, und in der Tat hat er bis heute von keinem anderen Komponisten derart viele Werke eingespielt. Anlässlich des 50. Todestages von Strawinsky hat Decca nun alle diese Aufnahmen aus den Jahren 1979 bis 2017 erstmals in einer Box versammelt. Ein Juwel.
Dass mit Chailly ein aussergewöhnlicher Strawinsky-Interpret von sich zu reden machen begann, wurde bald einmal evident. Bereits seine allerersten Einspielungen von 1979, damals für Dischi Ricordi und in der vorliegenden Box mit eingeschlossen, imponieren durch ein rhythmisch ungemein agiles und klanglich feinhöriges Dirigat. Und als Ende der 1980eroder Anfang der 1990er-Jahre die englische Musikzeitschrift «Gramophone» einen kritischen Überblick über sämtliche damals wichtigen Einspielungen des «Sacre du printemps» publizierte, wurde der Aufnahme von Chailly mit dem Cleveland Orchestra aus dem Jahr 1985 der erste Preis zuerkannt. Nachvollziehbar bis heute: Es ist eine der faszinierendsten, vitalsten und klanglich souveränsten Interpretationen des «Sacre» geblieben, die Chaillys späterem Remake mit dem Lucerne Festival Orchestra von 2017 wohl vorzuziehen ist.
Etliche Werke Strawinskys hat Chailly im Laufe seines künstlerischen Werdegangs wiederholt aufgenommen, und sie sind als willkommene Doubletten alle in dieser Edition präsent. Das erlaubt einen Einblick in Chaillys Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Orchestern und in deren klangliche Traditionen. Kein Zweifel, das Cleveland Orchestra galt seinerzeit als das Strawinsky-Orchester Nummer eins. Einmal mehr aber darf man auch staunen über die klanglich luxuriöse Farbpalette, die das Concertgebouw Orchestra unter Chailly für Strawinsky mobilisierte. Einige der Aufnahmen, Konzertmitschnitte zumeist, hat das orchestereigene Label RCO Live hier dankenswerterweise beigesteuert. Und nach dem «Feuervorgel», auch nach «Petruschka» könnte man süchtig werden – ungemein transparent und gleichzeitig unverhohlen lustbetont interpretiert, andrerseits Kammermusik vom Feinsten, jedenfalls dort, wo es die Partitur vorsieht, und insgesamt von einem mitreissenden, schlagkräftigen Drive durchpulst.
Werner Pfister
Strawinsky Edition. Concertgebouw Orchestra, Cleveland Orchestra, Radio-Symphonie-Orchester Berlin, London Sinfonietta, Lucerne Festival Orchestra; Dirigent: Riccardo Chailly. Decca 4851367 (11 CDs)
Warum die Bratsche auch Viola heisst – bei Nils Mönkemeyer versteht man das plötzlich nochmal ganz neu: Manchmal – vor allem im Adagio des g-Moll-Konzerts RV 416 von Vivaldi – klingt sein Instrument tatsächlich fast wie eine Viole, also wie eine Gambe. Wie schon etliche Male beweist der deutsche Bratschist damit seine stilistische und klangliche Vielseitigkeit aufs Schönste. Auf einen originalen Bratschen-Ton, wie auch immer der klingen würde, braucht er sich hier ohnehin nicht zu fokussieren, die beiden hier eingespielten Vivaldi-Konzerte hat er vom Fagott respektive vom Cello geklaut, denn nicht mal Vivaldi hat in seinen über 500 Concerti auch nur eines der Bratsche gewidmet. Aber das hindert Mönkemeyer natürlich nicht daran, sich diese Musik nicht nur auf höchst virtuose, sondern auch auf geschmackvolle Weise anzueignen. Und wenn in der Kadenz zum «Grossmogul»-Konzert, die er zwischen die beiden Vivaldi-Konzerte schiebt, geigerische Brillanz gefordert ist, liefert er auch diese mühelos. Zudem hat er mit den Musikern von «L’Arte del Mondo» unter Werner Ehrhardt eine Vivaldi-erfahrene Begleitband zur Seite. Hier sind sie allesamt in ihrem Element, mit knackig-scharfen Akzenten, vielseitigen Klangfarben, mal rustikal, mal elegant, mit lustvoll-virtuosen Girlanden, akrobatischen – für das Soloinstrument eigentlich sehr unbratschistischen – Höhenflügen und souverän gemeisterten Tempowechseln.
Aber die «italienische Reise» Mönkemeyers führt diesmal weit aus der Barockzeit hinaus. Da gibt es Virtuosenfutter von Paganini oder Salonmusik von Alessandro Rolla – das ist möglicherweise tatsächlich nicht die wertvollste Musik aller Zeiten. Aber unter den Händen dieses Bratschen-Wunderknaben wird auch sie beredt zum Leben erweckt, mit variantenreichem, überaus wachem Klangsinn in eben gerade nicht geigerischer Vollmundigkeit ausgeformt und zu dem gemacht, was sie sein wollte: Unterhaltungsmusik von Könnern für ein staunendes Publikum (Rolla war selbst Bratschist, sein Schüler Paganini, beherrschte das Instrument nicht minder akrobatisch als seine Geige). Aufhorchen lässt nach dem Paganini-Mittelsatz die Kadenz: Salvatore Sciarrino komponierte diese kleine charmante Flageolettund Glissando-Studie unter dem Titel «Di volo» als Teil seiner drei «Notturni brillanti» für Viola solo. Etwas betulicher, schulmeisterlicher wirken die Variationen, die Tartini über eine Corelli-Gavotte komponierte – ebenfalls nicht für die Viola, sondern für die Geige. Aber auch das motiviert einen Musiker wie Mönkemeyer natürlich nur umso mehr, die Möglichkeiten seines Instruments von der vielseitigsten und farbigsten Seite zu zeigen.
Reinmar Wagner
Vivaldi: Concerti RV 416 & 495, Kadenz zu RV 208, Alessandro Rolla: Arpeggio für Viola solo BI 7, «Romanza» aus «Sei Pezzi di murie ridotti per Viola solo», Tartini: «L’Arte del Arco» – Variationen über ein Gavotte von Corelli, Paganini: Sonata per la Grand’ Viola e Orchestra op. 35 (mit einer Kadenz von Salvatore Sciarrino). Nils Mönkemeyer (Viola), L‘Arte del Mondo, Werner Ehrhardt.
Sony 19439 730032
Der holländische Pianist und Dirigent Jan Schultsz ist Professor für Kammermusik und Liedgestaltung an der Basler Musikhochschule. Er ist aber auch ein hervorragender Liedbegleiter, auf dessen Fähigkeiten etwa auch schon Cecilia Bartoli, Werner Güra oder Ian Bostridge zählten. Auf seiner neuen Doppel-CD unternimmt Schultsz anhand der Lieder und Duette eine Reise durch alle Phasen im Komponistenleben von Johannes Brahms. Mit aufregendem Resultat, denn die Aufnahme mit drei herausragenden Sängern (Rachel Harnisch, Marina Viotti, Yannick Debus) rückt Brahms so nahe wie kaum eine Lieder-CD bisher.
Jan Schultsz pflegt den historischen Ansatz bis in viele Details hinein mit Akribie und Fachwissen. Die eine Seite davon ist das Instrument selbst: Brahms besass privat einen Hammerflügel des Klavierbauers J. B. Streicher, den er sehr schätzte, und von dem er selbst sagte, dass er dessen Technik und Klang beim Komponieren sehr deutlich vor Augen (oder Ohren) hatte. Schultsz konnte für diese Einspielung ein identisches Modell jenes Instruments verwenden. Darüber hinaus wissen wir Einiges über das persönliche Klavierspiel von Johannes Brahms, einerseits durch Zeugnisse von Zeitgenossen, aber auch durch eine Einspielung auf einem sogenannten Edison-Zylinder, einem Vorläufer des Grammofons. Daraus geht hervor, dass Brahms offenbar eine sehr freie, fast improvisierende Art des Klavierspielens pflegte. Das betrifft nicht nur die Tempo-Relationen auf kleinem Raum, sondern vor allem auch das Arpeggieren der Akkorde und die nicht exakt im Metrum gehaltene Führung von Begleitstimmen. Bindungen wurden so weit wie möglich mit den Fingern gespielt, das Pedal dagegen sehr sparsam eingesetzt.
Jan Schultsz hat sich diese Erkenntnisse dezidiert zu eigen gemacht und die spezifischen Spielweisen von Brahms so verinnerlicht, dass wir eine Ahnung davon bekommen können, wie Brahms selbst seine Lieder wohl begleitet hätte. Das wirkt beim ersten Hören oftmals leicht irritierend, das Metrum erscheint oft verwischt. Auf der anderen Seite ergibt sich dadurch eine ungemeine Freiheit, die drei Sänger erhalten auf diese Weise enorm viel Raum, um den Bedeutungsnuancen dieser Melodien und Gedichte nachzuspüren. So klingen denn diese Interpretationen ungemein lebendig, etwa so, wie ein guter Schauspieler diese Texte rezitieren würde, und nicht wie es die Notenwerte eines Viervierteltaktes vorschreiben. Und auch rein sängerisch können sich die drei Künstler in jeder Hinsicht von der besten Seite zeigen.
Reinmar Wagner
Johannes Brahms: Lieder & Duette. Rachel Harnisch, Marina Viotti (Mezzosopran), Yannick Debus (Bariton), Jan Schultsz (Fortepiano).
Pan Classics 10419 (2 CDs)
An seinen 32 Klaviersonaten arbeitete Beethoven sein halbes Leben lang, von 1795 bis 1822. Und trotzdem gibt es immer wieder Pianisten, die diesen bedeutendsten Zyklus der Klaviermusik in wenigen Tagen im Studio runternudeln. Daher ist grundsätzlich Skepsis geboten gegenüber solchen Grosstaten, und es gibt auch kaum einen Komplettzyklus, der restlos überzeugt hätte. Nun hat der aus Sibirien stammende, seit vielen Jahren in der Schweiz lebende und lehrende Klaviervirtuose Konstantin Scherbakov, von Haus aus ein bedächtiger, hochintelligenter Gestalter, sich ebenfalls dieser Herausforderung gestellt und immerhin neun Monate lang in diversen Sitzungen in Zürich und Boswil an Beethovens «Neuem Testament» gearbeitet – mit einem Gesamtergebnis, das zwar unverwechselbar seine Handschrift trägt, und trotzdem auf eine sehr erfrischende, lebendige Weise objektiv klingt, als würde Scherbakov alles dransetzen, Beethoven, seinen Ideen und seiner Arbeit den Vortritt zu lassen.
Die Frage ist: Wie kann man Beethovens zeitlose Botschaften in unsere Gegenwart übersetzen, für heutige Ohren erlebbar machen, ohne zu persönlich zu werden? Scherbakov wählt (wie etwa schon Korstick vor ihm) den Weg der rigorosen Detailgenauigkeit, der radikalen Werktreue, und das heisst, dass er nicht nur Beethovens recht eigenwillige Artikulationsangaben präzise umsetzt, so etwa seine Vorliebe für spröde Staccato-Begleitung in vielen langsamen Sätzen, sondern dass er das sich oft genug im Piano und Pianissimo abspielende vorwärtsdrängende Geschehen mit leiser, trockener Virtuosität erfasst und so die Spannung erheblich erhöht. Er befolgt also als einer der ganz wenigen Pianisten auch minutiös und unbeirrt Beethovens kontrastreiche und mit Überraschungen gespickte Dynamik-Vorschriften, und verleiht so vielen Sätzen einen ganz neuen inneren Drive, eine sogartige Stringenz: das alles aber mit streng kontrollierter Energie, und ganz ohne die üblichen emotionalen Ausbrüche, als gelte es, einen brodelnden Vulkan zu bändigen.
Dies funktioniert nur, wenn man über eine solche fulminante Technik verfügt wie er, die selbst das Schwierigste mühelos erscheinen lässt, so etwa das «unspielbare» Schlusspresto der «Appassionata», die Scherbakov im Höllentempo, aber fast unscheinbar trocken und leise, wie Beethoven es wollte, abschnurren lässt. Durch diese wahrlich beängstigende Akkuratesse gelingt es ihm, die strukturelle Logik, das auskomponierte Drama und das ganz spezifische Profil jeder einzelnen Sonate von innen heraus zu beleben und den Notentext zu auratisieren, sich selbst aber ganz zurückzunehmen. Beethoven bleibt bei ihm bis zum spirituellen Ende ein Klassiker, ein rabiater Aufklärer, ein Zauberer, der aus kleinsten Bausteinen lebendige, tief spirituelle Welten erschaffen kann, dessen unerschöpfliche geistige Power aber stets frei blieb von aller vordergründigen Gefühligkeit. Beeindruckend ist die Konsequenz, mit der Scherbakov seinen radikalen Ansatz bis zum Ende durchhält, so wie es auch Beethoven tat: endlich ein Höhepunkt im Beethoven-Jahr!
Attila Csampai
Ludwig van Beethoven: Sämtliche
Klaviersonaten Nr. 1–32. Konstantin
Scherbakov (Klavier). Steinway & Sons 30150 (9 CDs)
«Alle Menschen werden Brüder». Nun ja, wenn man sich umschaut – nicht gerade das Hauptmerkmal unserer Tage. Schillers Ode in Beethovens Vertonung – abgenudelt für alles und fast jedes, für viel mehr jedenfalls als für den hehren Gedanken Europäischer Einheit – ist auch nicht unbedingt das zwingendste Mittel, im Beethoven-Jahr für Furore zu sorgen. Aber eines – von wegen Brüdern – ist doch hier gelungen: Wenn es auch nicht alle Menschen sind, so sind es doch vier Sänger, die hier zu Brüdern werden: Was sonst aus Leibeskräften mit dem letzten Rest stimmlicher Energie zu hohlstem Pathos hoch stilisiert wird, machen hier Christiane Karg, Sophie Harmsen, Werner Güra und Florian Bösch zu einem Vokal-Quartett von delikatestem Zuschnitt. Einfach nur einleuchtend: Wer es so gehört hat, versteht gar nicht, wie man hier losbrüllen kann. In die gleiche Kerbe haut der Chor, die Zürcher Sing-Akademie: niemand muss forcieren, «überm Sternenzelt» scheint tatsächlich losgelöst von jeder irdischen Schwere. Beethovens zweifellos intendiertes Pathos, das hat Pablo Heras-Casado wie vor ihm kaum einer erkannt, ist im Werk immanent, es braucht nicht zusätzlich aufgeladen zu werden. So wird hier in dieser nun wahrhaft würdigen Einspielung zu Beethovens Jubeljahr dieses manchmal wirklich nur schwer goutierbare Finale der Neunten zum Genuss und wahrhaften Ausdruck von Menschlichkeit und Brüderlichkeit.
Die anderen Sätze der Neunten hatten es schon immer einfacher. Gerade der erste, ein Wurf, mein liebster Satz aus allen Sinfonien Beethovens, mit den dramatischen d-Moll-Akkorden und den lieblich kontrastierenden Holzbläsern im Seitenthema: Sonatensatz auf meisterlichste Art. Heras-Casado verschenkt nichts davon, und das ihm vertraute Freiburger Barockorchester sorgt für die passende Klanglichkeit ohne jedes Streichergesülze. Die beispielhafte Durchsichtigkeit des Klangbilds geht einher mit einer wachen Dramaturgie in den Akzenten und fast immer enorm zugespitzten Tempi, die eine packende Energie-Dichte mit sich bringen, ohne den Eindruck von Ruhelosigkeit oder Getriebenheit. Schlicht und einfach souverän! Und noch ein Element zum Meilenstein hat diese Produktion: Man begnügt sich nicht mit der Neunten, sondern zeigt, wie sich Beethoven den Weg zu dieser Sinfonie bahnte: Mit der selten gespielten Chor-Fantasie op. 80, die mit diesen Interpreten gleichermassen mustergültig gelingt. Allein wie Kristian Bezuidenhout die Einleitung mit rhapsodischer Freiheit und souveräner Überlegenheit auf seinem Hammerflügel spielt, ist die CD schon wert.
Reinmar Wagner
Beethoven: Sinfonie Nr. 9, Chorfantasie. Christiane Karg, Sophie Harmsen, Werner Güra, Florian Bösch (Solisten), Kristian Bezuidenhout (Fortepiano), Zürcher Sing-Akademie, Freiburger Barockorchester, Pablo Heras-Casado. Harmonia Mundi 902 431.32 (2CDs)
Als ein «Gespräch mit dem lieben Gott» hat Max Reger den langsamen Satz seines Streichsextetts einmal bezeichnet. Er überzeugte mit diesem schlichten, bisweilen naiv anmutenden Gesang sogar seine Kritiker, die ihm in diesem Werk von 1911 ansonsten «chaotisches Wühlen» und «hochpathetisch krampfhafte Pose» unterstellten. Man kann sie ein bisschen verstehen, denn Reger treibt harmonisch wie formal die motivische Verarbeitung tatsächlich bis zum Exzess, aber er tut es derart meisterhaft und immer wieder auch originell, dass man ihm eben sehr gerne und auch immer von Neuem zuhören mag.
Kombiniert wird dieses Sextett mit Regers letztem vollendeten Werk, dem Klarinettenquintett op. 146. Eine etwas andere Welt: Es hat vergeistigte, bisweilen resignative Züge. Vorahnungen des Komponisten auf den nahen Tod darin hinein interpretieren zu wollen, wäre gleichwohl daneben: Reger starb plötzlich, mit erst 43 Jahren in einem Hotelzimmer an einem Herzanfall. Und so wie dieses sehr vielschichtige und rundum originelle Werk endet, in einem Variationen-Satz, der auf engstem Raum alles Mögliche verbindet, von weitgespannter Klarinetten-Kantilenen bis hin zu munterst sprudelndem, quirligem Gedudel, wirkt es eher wie eine selbstbewusste Demonstration kompositorischer Souveränität und Meisterschaft. Auch in den vorhergehenden drei Sätzen entfaltet Reger auf Schritt und Tritt charmanteste melodische Einfälle zuhauf, lässt sie in seiner typisch dichten, kontrapunktisch durchgearbeiteten Sprache begleiten, die alle Reize der spätromantischen Harmonik auskostet.
Das Münchner Diogenes Quartett – seit über 20 Jahren in gleicher Besetzung zusammen – hat sich schon in den Aufnahmen von Quartetten von Max Bruch, Humperdinck oder Friedrich Gernsheim als versiert gezeigt in der geschmeidigen Ausgestaltung wenig bekannter spätromantischer Kammermusik. Mit dem Klarinettisten Thorsten Johanns respektive dem Bratschisten Roland Glassl und dem Cellisten Wen-Sinn Yang haben sie sich für diese Einspielung mit Musikern zusammengetan, die sich offensichtlich durch verwandte Ensemble-Qualitäten auszeichnen: Wie aus einem Guss wirkt der Streicherklang im Sextett, und selbst die Klarinette, die sich von der Faktur des Quintetts her durchaus des Öfteren solistisch vorwagen darf, schmiegt sich stets gleich wieder gerne in den Gesamtklang ein. Trotz der sinfonischen Dimensionen, die Reger sich vor allem im Sextett erlaubt, bleibt der Klang durchhörbar und bei aller Intensität prägnant, ist bisweilen geprägt von ausgesuchter Schlichtheit und schlanker Reinheit, was gerade die weitgespannten Entwicklungslinien dieses zauberhaften Largo-Satzes auf überaus angenehme Weise unterstreicht. Man könnte Regers vielschichtige Musik sicher deutlich stärker auf Kontraste trimmen, man könnte insbesondere die zahlreichen Momente dezidierter heraustreten lassen, in denen Reger die Grenzen der spätromantischen Harmonik heftig ankratzt. Nötig aber, das zeigt diese exemplarische Einspielung, hat Regers Musik das überhaupt nicht: Sie wirkt hier rundum stimmig und auf beeindruckende Weise vollkommen.
Reinmar Wagner
Max Reger: Streichsextett op. 118, Klarinettenquintett op. 146. Diogenes Quartett, Thorsten Johanns (Klarinette), Roland Glassl (Viola), Wen-Sinn Yang (Cello). Cpo 555 340-2
Noch immer, mehr als 230 Jahre nach ihrer Niederschrift, umgibt Mozarts drei letzte Sinfonien eine Aura des Mysteriösen, die selbst unsere Reproduktionskultur nicht verscheuchen konnte: Warum hat er bereits drei Jahre vor seinem frühen Tod mit dieser genialischen Trilogie seinen sinfonischen Schlusspunkt gesetzt, ganz aus eigenen Stücken, und ohne äusseren Anlass? Verbindet diese drei so unterschiedlichen Werke nicht doch ein geheimes inneres Band, gar die Freimaurersymbolik des «Dreischritts»? Gab es nach dem wahrlich universalen Finale der «Jupiter»-Sinfonie für ihn nichts mehr zu sagen in diesem Genre, dessen grosse Zeit erst danach anbrach? Und hat Mozart seine drei letzten Symphonien überhaupt zu hören bekommen? Viele Fragen und noch mehr Rätsel, die sich wie eine Schutzhülle des Unantastbaren um das musikalische Mysterium dieser drei Gipfelwerke legen, und ihr tiefstes Geheimnis wohl niemals preisgeben werden. Es gibt unzählige Aufnahmen der Trias, aber nur wenige, die ihre metaphysische Dimension, ihre kosmischen Kräfte in Klang zu setzen vermögen.
Auch wenn die «Historisten» in den vergangenen Jahren die verklärende Sicht der Romantiker durch Konturenschärfe, Transparenz und flüssige Tempi neu fokussiert haben, gibt es etwa bei der g-Moll-Sinfonie noch immer eine (auf Schumann basierende) Tendenz zu beschönigendem Wohlklang. Das in Hamburg residierende Ensemble Resonanz und der italienische Barockspezialist Riccardo Minasi haben jetzt allen alten Mozart-Klischees eine radikale Absage erteilt: Auf modernen Instrumenten und mit geschärftem historischen Blick deuten sie Mozarts Triptychon als untrennbare Einheit und als dramatischen Ausbruch elementarer Kräfte und existenzieller seelischer Konflikte – eben als sein mächtiges sinfonisches Testament in drei Akten. Wir erleben in rabiater Schärfe die sinfonische Transformation des dramatischen Wesens von Mozarts Musik, gespiegelt an drei entscheidenden Tonarten-Charakteren, und ihrer Fähigkeit, die Fülle der menschlichen Existenz in ihrer Diskontinuität und Welthaftigkeit auszuformen. So reisst uns die g-Moll-Sinfonie endlich in den Strudel einer «aria agitata», eines echten weiblichen Bedrohungsszenarios, während Mozart in der Jupiter-Symphonie den denkbar schärfsten Kontrast von Gewalt und Zärtlichkeit, von Aktion und Passion, von Diesseits und Jenseits zusammenzwingt: In den langsamen Sätzen aber dringt er bis in die innersten Bezirke der Seele vor. In Minasis entfesselter Deutung wird klar, dass man dieses Triptychon stärkster Gefühle, dieses exzessive Statement des rein Humanen, diese abschliessende Trilogie des Wahrhaftigen nur im Zusammenhang aufführen sollte. Es sind Sprengsätze des Menschlichen, und sie bergen, wie Georgi W. Tschitscherin schon vor neunzig Jahren erkannte, «die Urkräfte des Universums».
Attila Csampai
Reynaldo Hahn – der Name erzählt allein schon einen grossen Teil seiner Biografie oder jedenfalls seiner Herkunft: Geboren 1874 in Caracas als Sohn eines Hamburger Kaufmanns und einer Venezolanerin mit baskischen Wurzeln. Der Vater stieg zum Berater des Präsidenten Antonio Guzman Blanco auf, und sah es nach Ende von dessen Amtszeit aber angezeigt, mit seiner elfköpfigen Familie nach Paris zu fliehen. Und so ist Reynaldo Hahns Karriere als Komponist gleichwohl eine ziemlich französische geworden: Conservatoire, Schüler unter anderem von Massenet, Erfolge in den Pariser Salons, eine leidenschaftliche Affäre mit Marcel Proust, aus der eine lebenslange Freundschaft erwuchs. Als er 1947 in Paris starb, hinterliess er Opern, Operetten, Ballettmusiken, eher wenig Instrumentalmusik, dafür zahlreiche Lieder. Zwar steht Reynaldo Hahn immer ein wenig im Schatten der Grossen des französischen Liedgesangs von Berlioz und Fauré über Chausson und Massenet bis zu Debussy und Poulenc, aber das scheint eine ungerechte Wahrnehmung zu sein, wie man jetzt sagen kann, nachdem auf vier CDs alle seine Lieder vorliegen.
Drei Viertel seiner 107 Lieder wurden bisher niemals aufgenommen oder sind längst nicht mehr verfügbar. Das war der Ausgangspunkt der Stiftung Palazzetto Bru Zane, die sich seit vielen Jahren auf höchstem musikalischem und musikwissenschaftlichem Niveau um das Repertoire der französischen Romantik kümmert, eine Gesamteinspielung in Angriff zu nehmen. Gewinnen konnte man dafür den griechischen Bariton Tassis Christoyannis, der sich schon mit Lied-Einspielungen von Félicien David oder Edouard Lalo hervorgetan hatte, und dessen Klavierpartner Jeff Cohen. Aufgenommen wurde zwischen November 2018 und Februar 2019 im venezianischen Palazzo Bru Zane, der dieser Stiftung und dem dazugehörenden CD-Label den Namen gab.
Hahns Liedschaffen deckt enorm vielseitige Facetten des kompositorischen Spektrums seiner Zeit ab. Stark verwurzelt zeigte er sich oft im französischen Romantisme im Stil Massenets, liess sein Interesse an Alter Musik, etwa von Couperin, einfliessen, liess sich andererseits vom Symbolismus und von Debussys Impressionismus inspirieren und schlug gegen Ende seines Lebens auch die Türe zum Verlassen der Tonalität nicht zu. Er tauchte ein in die spezifischen Klangwelten alter venezianischer Lieder oder der britischen Inseln, andererseits flirtete er auch in manchen seiner Lieder mit Operette und Musical. Dabei bleibt stets eine seiner hervorstechendsten Eigenschaften die Einfachheit seiner Melodieführungen und die Sparsamkeit im Einsatz von Effekten, die weniger in virtuosen Äusserlichkeiten aufscheinen als in überraschenden harmonischen Wendungen, rhythmischen Akzenten oder in lakonisch gesetzten Klavierakkorden.
Zu dieser stilistischen Vielschichtigkeit passt, dass für diese Einspielung mit Christoyannis ein fundierter Lieder-Sänger gründlich ans Werk gegangen ist und mit einem überaus reichen stimmlichen Spektrum, mit viel Farbenreichtum und sprachlicher Eloquenz sowie viel gestalterischer Intelligenz die Mammut-Aufgabe einer kompletten Aufnahme dieser Lieder nicht nur bewältigt, sondern jedes einzelne dieser Miniatur-Kunstwerke auf seine ganz spezifischen Ausdrucksbereiche abfragt und für jedes die passenden stimmlichen Mittel findet – was im Übrigen gleichermassen für den Pianisten Jeff Cohen gilt. Man hätte sich vielleicht vorstellen können, mit einer weiblichen Stimme, ein klangliches Gegengewicht zu setzen und für zusätzliche Stimmfarben zu sorgen. Aber das ist auch schon der einzige Einwand zu einer in jeder Hinsicht gelungenen, überaus bereichernden und auch nach der vierten CD kein bisschen langweilenden Einspielung.
Reinmar Wagner
Reynaldo Hahn: Sämtliche Lieder. Tassis Christoyannis (Bariton), Jeff Cohen (Klavier).
Bru Zane 2002
Das Beethoven-Jahr wirft seine ersten Schatten voraus, und schlägt gleich mal mit grosser Geste an den Geburtstags-Gong. René Jacobs ist dafür verantwortlich, der sich nach seinen wirklich weltbewegenden Einspielungen von Mozarts späten Opern nun der einzigen Oper von Beethoven zugewendet hat. Wir wir es von ihm kennen, will er zuerst einmal alles wissen, was sich nur in Erfahrung bringen lässt über die Entstehungs- und Aufführungsgeschichte des Werks. Und diese akribische Vorbereitungs-Arbeit hat nun dazu geführt, dass er sich nicht auf die etablierte letzte Fassung von Beethovens «Fidelio» eingelassen hat, sondern im Gegenteil sich auf die ganz erste der in drei verschiedenen, recht stark unterschiedlichen Fassungen überlieferten einzigen Oper von Beethoven konzentriert hat.
1805 kam Beethovens «Leonore» zur Premiere. Leider war der lokale Adel vor dem Einmarsch der napoleonischen Truppen geflohen, sodass fast nur Franzosen im Publikum sassen. Und Orchester wie Sänger waren überfordert, was sich vor allem in offenbar sehr schleppenden Tempi äusserte. Fazit der Zeitgenossen: Das Stück ist zu langweilig und zu lang. Also kürzte Beethoven stark, fasste die drei Akte in zwei zusammen und brachte im Jahr darauf «Leonore» wieder zur Aufführung.
Ein grosser Verlust an Substanz, findet Jacob, und man muss ihm recht geben: Langweilig oder langatmig wirkt in seiner Fassung nun wirklich gar nichts, aber sie bietet dem Rotstift zum Opfer gefallene Raritäten wie Roccos «Gold»-Arie oder ein zauberhaft von Violine und Cello umspieltes Duett von Leonore und Marzelline. Und auch das Finale, das deutlich länger spannend und ungewiss bleibt, hat in dieser Fassung einiges für sich, zumal es Jacobs auch hier versteht, mit musikalischen Mitteln und seiner klugen Tempo-Dramaturgie selbst auch für zusätzliche Spannungen zu sorgen.
Die Dialoge hat Jacobs grösstenteils beibehalten, aber sprachlich modernisierte. Stark betont wird dadurch vor allem zu Beginn der Singspiel-Charakter des Stücks, auch deshalb, weil Jacobs oft flirrend schnelle Tempi wählt und seine Solisten in rasende – aber immer souverän gemeisterte – Koloraturen zwingt, was wiederum die Leichtigkeit der Partien betont. Auf seine Besetzungen kann sich der belgische Maestro auch hier verlassen, von einer fulminanten Marlis Petersen als Leonore über Maximilian Schmidt als Florestan und Robin Johannsen als Marzelline bis hin zur Zürcher Sing-Akademie und natürlich dem mit ihm längst innigst vertrauten Freiburger Barockorchester.
Reinmar Wagner
Beethoven: «Leonore» 1805. Marlis Petersen, Maximilian Schmidt, Dimitry Irashchenko, Robin Johannsen, Johannes Weisser, Tareq Nazmi, Johannes Chum, Zürcher Sing-Akademie, Freiburger Barockorchester, René Jacobs.
Harmonia Mundi 902 414 15 (2 CDs)
Als sich vor sechs Jahren ein junger Pianist – 26 Jahre alt war Igor Levit damals – erlaubte, sein CD-Debüt ausgerechnet mit Beethovens späten Klaviersonaten, dem heiligen Gral der Klavierliteratur, zu geben, erntete er viel missbilligendes Kopfschütteln, aber auch viel enthusiastische Bewunderung. Weitere Aufnahmen folgten, die Bewunderung wuchs und wuchs – und das Kopfschütteln verlor sich fast ganz. Denn mittlerweile war es klar geworden: Da ist ein ganz Grosser herangereift. Zwar noch jung, aber trotzdem reif und manuell wie geistig gleichermassen mit beneidenswerten Sondergaben ausgestattet. Denn er verfügt über atemberaubende technische Fähigkeiten, aber er ist in keinem Takt ein durch die Notenblätter rauschender Virtuose.
Nun legt er – das Beethoven-Jahr 2020 steht an – den gesamten Torso der 32 Beethoven-Klaviersonaten vor und tritt damit an die Seite von Maurizio Pollini, András Schiff und Alfred Brendel. Diese Nachbarschaft macht es denn auch sofort deutlich: Igor Levit ist eine, ja zwei Generationen jünger als diese Altvorderen. Und das prägt seinen Beethoven. Bricht er, jugendlich stürmisch, Rekorde? In den Tempi zuweilen; aber er ist nie auf Weltrekorde aus (die mag Friedrich Gulda in seiner frühen Decca-Einspielung für sich beanspruchen). Altersweise kommt Levits Beethoven sicher nicht daher, aber weise trotzdem. Und risikofreudig. Er reizt die dynamische Palette affektbetont aus, wobei nicht jedes Sforzato gleich den ganzen musikalischen Verlauf aus den Angeln heben muss. Staubfreie Präsenz, luzide Klarheit, sorgsam austarierte Akzente und feinsinnig phrasiertes Melos geben hier den Ton an, strukturelle Präzision und ein exaktes Timing kommen hinzu.
Das zeigt sich in einzelnen Detaillösungen, vor allem aber im grossen Zug, im Drive von Levits Spiel, der den Hörer packt und sozusagen mit sich zieht selbst dort, wo die Musik praktisch an Ort tritt. Dieses Klavierspiel in seiner fast ultimativen, fast grenzenlosen, aber doch jederzeit souverän kontrollierten Expressivität wurzelt den Pianisten sozusagen in der Musik Beethovens fest und lässt ihn von diesem Fundament aus zu einsamen, oft sehr lustvoll geprägten, zuweilen gar himmlischen Höhenflügen ansetzen. Und wie er dabei singen kann auf den weissen und schwarzen Tasten! Und das selbst im hineilenden Prestissimo. Ab und zu nimmt er sich auch Zeit zum Innehalten mit einer unerwarteten Kunstpause zwischen einzelnen Motivsegmenten: Es ist dann, als müsste er dem Klang noch einmal nachhören, nachdenken, bevor er weiterschreitet. Und der Hörer denkt mit.
Werner Pfister
Beethoven: 32 Klaviersonaten. Igor Levit (Klavier).
Sony 190758431826
So suggestiv klang das Frühlings-Erwachen der Natur am Beginn von Mahlers erster Sinfonie noch kaum je, wie hier unter den Händen von François-Xavier Roth und seinem Orchester «Les Siècles». Es ist langsam. Und es ist leise. Es ist ein konzentriertes Horchen auf die Klänge der Umgebung zum Beispiel in einem ruhigen Wald, ein Horchen, das vorerst wirklich nichts anderes tut: Roth schildert meisterhaft diesen Zustand zwischen Bewegungslosigkeit und doch höchst gespannter Aufmerksamkeit. Erst mit dem «Gesellenlied-Thema» kommt ein wenig Bewegung in diese meditative Erstarrung, aber selbst die Trompetensignale klingen weniger nach Fanfaren, als nach fernen Erinnerungen. Am Ende des ersten Satzes dann die 180-Grad-Wende: Der Höhepunkt nach 13 Minuten ist wirklich so laut wie ihn die historischen Instrumente, auf denen «Les Siècles» natürlich auch hier spielen, hergeben, Instrumente, die nicht nur aus der Zeit der Uraufführung von Mahlers sinfonischem Erstling, sondern auch geografisch aus Wien stammen: Wie ein rasender Strudel steuert Roth den Satz auf sein turbulentes Ende zu.
Es folgt hier der idyllische «Blumine»-Satz, den Mahler später aus der Sinfonie entfernte. Roth wählte die zweite Fassung des Werks, die 1893 in Hamburg und 1894 in Weimar aufgeführt worden war. Was immer Mahler bewogen hat, diesen Satz später zu entfernen, man kann sich der bezaubernden Schönheit dieser Musik kaum verschliessen. Roth bleibt seiner interpretatorischen Linie treu: Zur durchsichtigen Schlankheit der historischen Instrumente, die auf Schritt und Tritt reizvoll ungewohnte Klangfarben-Kombination erzeugen, kommt eine überaus schlüssige Tempo- und Dynamik-Dramaturgie. Zum Beispiel unwiderstehliche Beschleunigungen, agogisch sehr präzis gezeichnet und vom Orchester in souveräner Homogenität umgesetzt, etwa beim orgiastisch lustvoll auf das Ende zupreschenden hier nun dritten Satz. Und das Kontrabass-Solo mit dem nach Moll-gewendeten «Bruder Jakob»-Thema erhält hier eine Spur jener Armseligkeit, die ihm Mahler zugedacht hat, die Musikkapellen, die sich über den Weg laufen, scheinen sich wie an der Basler Fasnacht gegenseitig aus dem Takt bringen zu versuchen, die «Lindenbaum»-Episode erhält eine ungemein berührende Zartheit und im Finale werden sowohl das Inferno wie die Apotheose dieses Helden durch eine gebührend dramatische, beziehungsweise triumphierende musikalische Schilderung auf die Spitze getrieben. So viel fesselndes Musiktheater war selten in Mahlers erster Sinfonie!
Reinmar Wagner
Mahler: Sinfonie Nr. 1 «Titan». Les Siècles, François-Xavier Roth.
Harmonia Mundi 905 299
Es gibt solche Momente im Berufsleben eines Musikjournalisten: Man schiebt ohne jegliche Erwartungen eine CD in den Player. Hindemith, gut, eigentlich immer gerne, Werke für Violine, respektive Viola und Klavier. Die Namen der Interpreten: schon gehört, aber kein nachhaltiges Profil im Hinterkopf: Roman Mints, 1976 geborener russischer Geiger, unter Kremers Fittichen gross geworden, für seine Desyatnikov-Einspielung für den ICMA nominiert. Alexander Kobrin, Absolvent des Moskauer Konservatoriums, Preisträger des Busoni- und des Chopin-Wettbewerbs. Und dann, nach ein paar Takten man kommt nicht mehr los vom Spiel dieser beiden Musiker, hört manche Passagen ein zweites und drittes Mal und freut sich über mannigfaltige Details im Hindemith-Spiel dieses Duos. Zum Beispiel über die reiche Klangfarbenpalette der Geige in Opus 11/1, wenn Hindemith fast wie Debussy klingt, oder über das kunstvolle Verdämmern am Ende des zweiten und letzten Satzes, eines «feierlichen Tanzes», und wie noch im Verdämmern ungemein subtil Akzente gesetzt werden. Oder darüber wie die simplen Einzeltöne nicht einfach Repetitionen sind, sondern in Bezug zueinander gesetzt werden: Hohe Spannung in der totalen Entspannung. Oder wie manche Stellen mit geradezu lakonischer Plakativität in den Raum gepfeffert werden: Da kommt Hindemiths Witz wunderschön durch, ebenso wie in den suggestiv ausgespielten Stilzitaten. Dann wieder überraschen köstlichste Süsse oder schwere innere Glut in den Geigenlinien, gekonnte Rubato-Dramaturgien, Accelerandi wie mit dem Lineal gezeichnet: Eine Explosion an Nuancen auf kleinstem Raum. Dann stellt sich die Frage: Wie kann dieser Geiger bratschen? Hindemith schrieb die Viola d’amore vor für sein Opus 25/2, und Mints entwickelt darauf nicht nur viel Sinn für die spezifischen Klangfarben dieses barocken Instruments, sondern auch eine stupende Virtuosität. Und die innere und äussere Bewegtheit der «Trauermusik» erhält unter seinen Händen sehr viel sprechende Emotionalität, ohne jemals zu einseitig plakativ zu werden oder zu platt zu klagen. Wer Hindemith bisher nicht mochte, könnte bekehrt werden durch diese CD, wer ihn schon mag, wird ihn noch mehr lieben.
Reinmar Wagner
Hindemith: Sonaten für Violine und Klavier op. 11/1, 11/2, in E und in C, Mediation aus «Nobilissima visione», Sonate für Viola d’Amore und Klavier op. 25/2, Trauermusik. Roman Mints (Violine, Viola d’Amore), Alexander Kobrin (Klavier). Quartz 2132
Haydns «Sieben Worte», eine Satz-Folge aus lauter «lento», «grave» oder «adagio»-Sätzen mit dem finalen «Terremoto», erzählen ohne Text, nur mit den Mitteln des Orchesters, das Leiden Christi am Kreuz nach. Aber langsam heisst nicht langweilig, schon gar bei Riccardo Minasi. Das Leiden des Erlösers wird hier musikalisch überaus sensibel gefasst mit Barmherzigkeit, süsser Heilsgewissheit und einer ahnungsvollen Ehrfurcht vor der Grösse dieses göttlichen Menschenopfers.
Es ist eines der ungewöhnlichsten Werke aus Haydns Feder. Der Auftrag kam auch von einem eher exotischen Ort, aus Cádiz an der andalusischen Atlantikküste, wo sich der Bischof für den Karfreitag zehnminütige musikalische Meditationen zu den sieben Worten Christi am Kreuz wünschte. Sieben langsame Sätze, umrahmt von einer Introduktion und dem abschliessenden Erdbeben, das laut dem Matthäus-Evangelium auf Jesu Tod folgte. «Die Aufgabe, sieben Adagio’s wovon jedes gegen zehn Minuten dauern sollte, aufeinander folgen zu lassen, ohne den Zuhörer zu ermüden, war keine von den leichtesten», schrieb Haydn später. «Jedwede Sonate, oder Jedweder Text ist bloss durch die Instrumental Music dergestalten ausgedruckt, dass es den unerfahrensten den tiefsten Eindruck in Seiner Seel Erwecket.» Aber kreativ und originell, wie Haydn immer war, schafft er es bemerkenswert souverän, für klanglichen Reichtum und emotionale Abwechslung zu sorgen. Später veröffentlichte er das Stück auch für Streichquartett, erlaubte eine Klavier-Version und sanktionierte eine vertextete Version aus Passau.
Interessant an dieser wundervollen Einspielung ist, dass zwar Riccardo Minasi aus der Originalklangszene stammt, das Hamburger Ensemble Resonanz aber, das ohne Chefdirigenten spielt, mit dem italienischen Geiger gerne zusammen arbeitet und mit ihm bereits mit Musik von C. Ph. E. Bach nachhaltig für Aufmerksamkeit gesorgt hat, auf modernen Instrumenten spielt. Und es dennoch auf beeindruckende Weise schafft, die musikalische Rhetorik des klassischen Stils in all seinen Facetten einzubringen, die stilistischen Erkenntnisse subtil anzuwenden, klanglich dabei durchaus «modern» klingt, aber derart elegant und ansprechend spielt, dass man sich dem Charme dieses Spiels trotz des eigentlich nachdenklichen Sujets in keinem Moment entziehen kann.
Reinmar Wagner
Haydn: Die sieben letzten Worte». Ensemble Resonanz, Riccardo Minasi. Harmonia Mundi 902633
Franz Liszt, ein Opernkomponist? Hätten wir nicht gedacht. Er allerdings schon: Sein Leben als reisender Salonlöwe und bewunderter Klaviertitan war ihm Anfang der 1840er-Jahre etwas überdrüssig geworden, und er wollte dem Vorbild seines Freundes Richard Wagner nacheifern und ein erfolgreicher Opernkomponist werden, wie er in Briefen und gegenüber Freunden äusserte: «In drei Jahren werde ich definitiv mein Klavier zuschliessen … im Winter 1843 werde ich in Venedig eine Oper vorstellen, Le Corsaire nach Lord Byron», schrieb er 1841 an eine Freundin. Seine Ambitionen waren gross: Liszts Opernpläne umfassten die hehrsten Stoffe, wie «Faust», «Divina commedia», Schillers «Semele» oder Lord Byrons «Manfred». Von Byron stammt auch die Vorlage für «Sardanapalo», das Drama über den assyrischen König, der sich mit all seinem Reichtum, seinen Konkubinen und Dienern in seinem Palast verbrennen lässt – berühmt ist das Gemälde von Delacroix (aus dem die Figur des Covers geschnitten wurde), vielleicht kennt man die Kantate von Berlioz.
Dieser «Sardanapalo» ist der einzige Stoff, den Liszt (ausser dem Studentenwerk «Don Sanche» von 1825) tatsächlich ein Stück weit für die Opernform bearbeitete – viele andere endeten bekanntlich als sinfonische Dichtungen. Den ersten Akt hat er fast vollständig skizziert, warum er die Arbeit nicht weiterverfolgte, ist nicht überliefert. Ein bezeichnender Satz allerdings findet sich in einer Rezension über Berlioz in der «Neuen Zeitschrift für Musik» von 1855: «Wir sind überzeugt, dass nicht jedes Genie seinen Flug auf die engen Grenzen der Bühne zu beschränken vermag.»
Aber noch um 1851 muss Liszt trotz Verzögerungen mit dem Libretto an eine baldige Aufführung geglaubt haben. Der erste Akt zeigt Sardanapals Geliebte Mirra, die den König zwar immer noch liebt, aber unter Heimweh leidet, den König selbst, der sie auf Händen trägt und ein Wahrsager und Staatsmann, der Sardanapal zum Krieg gegen seine Widersacher drängt, einer Forderung, welcher der König schliesslich unwillig nachgibt. In Liszts Skizzen finden sich alle Gesangslinien, für die Begleitung und Orchestrierung allerdings nur unterschiedlich komplette Angaben. Der Musikwissenschaftler David Trippett hat diese Skizzen an wenigen Stellen ergänzt und zu einer aufführungsfähigen Partitur verarbeitet.
In Liszts Wirkungsstätte Weimar liess sich der heutige GMD Kirill Karabits von diesem Opernfragment begeistern und realisierte die Ersteinspielung zusammen mit einem hochkarätigen Sängertrio, angeführt von Joyce El-Khoury. Es ist faszinierend, zu hören, wie vielfältig Liszt das Unternehmen Oper anging. Wenn man denkt, er würde hauptsächlich im Stil Wagners schreiben, täuscht man sich. Zwar gibt es Anklänge vor allem in der Harmonik, aber anderes erinnert mehr an Berlioz oder gar Verdi und Bellini. Auf jeden Fall ist diese grandiose, 50-minütige Opernszene eine überaus lohnende Begegnung.
Reinmar Wagner
Liszt: «Sardanapalo», «Mazeppa». Joyce El-Khoury (Sopran), Airam Hernández (Tenor), Oleksandr Pushniak (Bassbariton), Damenchor Theater Weimar, Staatskapelle Weimar, Kirill Karabits. Audite 97.764
Fällt der Name Camille Saint-Saëns, dann hat die musikinteressierte Öffentlichkeit mehrheitlich kaum viel mehr als ein beiläufiges Achselzucken übrig. Denn im Ernst, wo wären heute die senkrecht startenden (oder bereits gestarteten) PianistInnentalente, die sich ihren grossen Karriereschub ausgerechnet von Saint-Saëns erhofften? Benjamin Grosvenor machte eine lobenswerte Ausnahme, aber das ist bereits wieder sechs Jahre her und wurde hierzulande kaum beachtet. Und wo wären die Konzertveranstalter, die sich den Sinfonien und den Klavierkonzerten von Saint-Saëns annähmen? Hat dieser Komponist, einst die gefeierte Autorität in Frankreich, aber von Neidern schon damals belächelt (umgekehrt von Liszt, der es ja wissen musste, hoch geachtet), wirklich ausgedient?
Fragen über Fragen. Und da kommt Bertrand Chamayou, mit 37 Jahren immer noch zu den Jungen gehörend. Ein Meisterpianist, aber eher auf leisen Sohlen, einer, der durch künstlerische Leistungen überzeugt, und zwar in allem, was er tut. Cello-Liebhaber kennen (und schätzen) ihn als kongenialen Begleiter von Sol Gabetta, Ravel-Liebhaber geraten in Verzückung, wenn man sie auf Chamayous Gesamteinspielung der Klavierwerke Ravels anspricht («Ein Meilenstein für Ravel» titelte ich damals meine M&T-Rezension). Und ausgerechnet dieser durch und durch ernsthafte, reflektierte und alles andere als das laute, oberflächliche Getöse suchende Pianist legt nun eine Saint-Saëns-CD vor mit Klavierkonzerten und einigen Solowerken. Spielt also ernsthaft Musik, die als oberflächlich gebrandmarkt wird – und man hört gebannt zu.
Chamayou nimmt die Musik ernst, und das heisst vorab: Er gibt ihr jene manchmal fast tändelnde, sozusagen flirtende Leichtigkeit, die sie unbedingt braucht. Philosophisch grübelnder Tiefsinn ist hier fehl am Platz. Hier braucht es vor allem flinke Finger, die auch die Kunst des leichten Überfliegens gekonnt beherrschen. Denn manches will nur angetippt sein, um zu seiner vollen Wirkung zu kommen. Anderes wiederum will wie der architektonische Klassizismus des Boulevard Haussmann im 8. und 9. Arrondissement von Paris klingen – mächtig, repräsentativ, ja grosssprecherisch. Über all diese interpretatorischen Facetten verfügt Bertrand Chamayou, und das in reichlichem Ausmass. Er kann – um im architektonischen Bild zu bleiben – mächtige Sockel, wuchtige Säulen sowie riesige, vielgestaltig ausgearbeitete Fassaden zu Klängen modellieren, er kann mit der Musik (und damit auch mit dem Zuhörer) flirten, augenzwinkernd und unwiderstehlich. Herrlich, wie er das «Ägyptische» Konzert, das fünfte, in leicht wiegendem Mozart-Ton beginnt, allerdings angereichert durch exquisite Harmonien, die von fernher den Maghreb anklingen lassen. Zudem die beigegebenen Solowerke: In der Etüde «en forme de valse» ist Liszts Vorbild hörbar, die Mazurka op. 66 Nr. 3 klingt wie eine Liszt-Bearbeitung einer Chopin-Mazurka. Einfach fantastisch.
Werner Pfister
Camille Saint-Saëns: Klavierkonzerte Nr. 2 und Nr. 5, 7 Solowerke. Bertrand Chamayou (Klavier), Orchestre National de France, Emmanuel Krivine. Erato 0190259634261
Bis erstmals alle vollendeten Kompositionen, Fragmente und Bearbeitungen von Claude Debussy (1862-1918) auf CDs erscheinen konnten, bedurfte es dessen 100.Todestag. Zu einem diskografischen Ereignis wurde diese späte Edition vorab der herausragenden Interpretationen wegen. Garantieren unter den Dirigenten Pierre Boulez, Carlo Maria Giulini, Armin Jordan, Kent Nagano oder Michel Plasson für beispielhafte Einspielungen, so tun dies Pianistinnen und Pianisten kaum weniger. Ihre lange Liste reicht von älteren Aufnahmen mit Aldo Ciccolini, Monique Haas und Samson François über Michel Béroff, Noël Lee und Christian Ivaldi bis zu Pierre-Laurent Aimard, Jean-Pierre Armangaud, Martha Argerich und Lilya Zilberstein. Stechen bei den Kammermusikern das Quatuor Ébène, The Nash Ensemble und die Solisten Renaud Capuçon, Yehudi Menuhin, Emmanuel Pahud und Itzhak Perlman hervor, so führen bei den Vokalwerken Natalie Dessay, Véronique Gens, Philippe Jaroussky, Mady Mesplé und Gérard Souzay den Reigen meisterhafter Interpretinnen und Interpreten an.
Unter den verhältnismässig wenigen Ersteinspielungen verdienen nebst der Urfassung der «Chansons de Charles d‘Orléans» für Chor a cappella und dem Fragment der lyrischen Komödie «Diane au bois» die zweite Version der von Debussys Freund und Mitarbeiter André Caplet orchestrierten «Ariettes oubliées» und die Originalversion des Opernfragments «La Chute de la Maison Usher» für Singstimmen und Klavier besondere Beachtung.
Erstmals zu hören ist mit der «Humoresque en forme de valse» von Joachim Raff auch ein bislang kaum bekanntes Kuriosum, übertrug doch Debussy das ursprünglich vierhändige Werk für Klavier zu zwei Händen. Im Zusammenhang mit dieser Transkription und einer gleichartigen von Schumanns Genrestück «Am Springbrunnen» erweist sich als grösste Überraschung, wie wichtig für Debussy der Werkverbreitung dienende Bearbeitungen fremder und eigener Kompositionen waren. Seine brillante Übertragung der 2.Sinfonie von Saint-Saëns oder der Ouverture zu Wagners Oper «Der fliegende Holländer» bereitet einen ebenso grossen Hörgenuss wie die Eigenbearbeitung des Balletts «Jeux» für Soloklavier. In dieser jüngsten, 2017 entstandenen Ersteinspielung erzeugt Jean-Pierre Armengaud einen farbenreichen Klavierklang von betörender Sinnlichkeit. Weitere interpretatorische Höhepunkte sind Jean-François Heisser und Georges Pludermacher zu verdanken, die Caplets atmosphärisch bezaubernde Transkription aller drei Teile der orchestralen «Images» für zwei Klaviere schon 1993 aufgenommen hatten. Von Debussy autorisierte Bearbeitungen – darunter Henri Büssers Orchestration der frühimpressionistischen Suite «Printemps» und das Ballett «Khamma» mit Charles Koechlins Beteiligung – nehmen breiten Raum ein. Zusammen mit dem detailreichen Einführungstext des Debussy-Spezialisten Denis Herlin und allen Welte-Mignon-Aufnahmen des Komponisten tragen die japanischen Farbholzschnitte auf den CD-Vorderseiten wesentlich zu dieser glanzvollen Produktion bei.
Walter Labhart
Claude Debussy: The Complete Works. Warner Classics 0190295736750 (33 CDs)