Didos Innenwelten
Das Luzerner Theater baute sich ein Haus ins Haus und spielt darin Purcells «Dido and Aeneas».

Dumpfe Trommeln klingen durch das Foyer, irgendwo röchelt ein tiefes Blasinstrument, später sehen wir dass es ein Serpent ist, jene wunderschön geformte, aber fast unmöglich zu spielende Bass-Variante des Zinken aus der Renaissance. Wiederum etwas später hustet sein Spieler in eine Tuba, und dann hat – immer noch im Foyer – schon Dido ihren ersten Auftritt: Die Schauspielerin Dora Balog spricht einen neugefassten Prolog, in dem es um Schmerz, verpflichtende Versprechen und die Ehre einer Königin geht, und sie lädt uns ein in ihr Haus, das zwar tatsächlich ein Haus, aber eigentlich ihr Inneres ist.
Hier ist alles Dido: Die Hexen, die Zauberin, selbst Aeneas – sie tragen ähnliche Perücken und Kostüm-Elemente, und konsequenterweise sind am Ende auch alle tot. Zwar gibt es keine Masken, aber mit diesem Kunstgriff erhält das Stück den Habitus einer antiken Tragödie, was es bei Vergil natürlich nicht ist – diese Hexameter waren nie für die Bühne gedacht – was aber gar nicht schlecht passt. Denn die Regisseurin Magdalena Fuchsberger lässt auch den Chor zeitweise wie eine von aussen kommentierende Masse agieren und gibt seinen Aktionen einen rituellen Charakter.
Mit dem Haus hat es seine besondere Bewandtnis: Die Holzbalken, die wir sehen, waren wirklich einmal ein richtiges Riegelhaus, genauer eine ehemalige Mosterei aus der Luzerner Umgebung, die nun ein kurzes zweites Leben als Theaterbühne erhalten hat. Die Konstruktion steht dabei nicht auf der eigentlichen Bühne, sondern mitten im Parkett, was dazu führt, dass die Zuschauer rundherum (auch auf der Bühne) platziert sind, und sowohl das Orchester wie die Sängerinnen und Sänger immer irgendwem den Rücken zukehren. Zudem gibt es zwei Stockwerke, man sieht also tendenziell entweder eher ins Parterre oder in die Beletage, womit insgesamt dafür gesorgt ist, dass man sicher nicht alles mitkriegt.
Diese Spielanlage führt auch dazu, dass wir recht wenig von den Beziehungen der Figuren untereinander erfassen. Vieles bleibt etwas rätselhaft in den Aktionen des permanent durch dieses Holzbalkenhaus schreitenden Ensembles und sogar wenn etwas nicht im «falschen» Geschoss oder auf der anderen Seite, sondern direkt vor unseren Augen geschieht, heisst das noch lange nicht, dass wir den Sinn davon verstanden haben.

Mit der Zeit erkennt man die Stimmen und weiss auch, ohne sie zu sehen, wo Dido gerade singt. Gerade im Fall der isländischen Sopranistin Eyrún Unnarsdóttir lohnt es sich auch sehr, ihr zuzuhören. Aber insgesamt machen sie alle eine gute Figur im Luzerner Ensemble, sängerisch wie darstellerisch, von Robert Maszl als Aeneas, Tania Lorenzo Castro als Belinda, Marcela Rahal als Zauberin bis hin zum Chor.
Das Orchester spielt unter dem neuen Musikdirektor des Luzerner Theaters, dem Briten Jonathan Bloxham und trifft auch auf seinen modernen Instrumenten die barocke Gestik recht gut. Rein klanglich, und bisweilen auch in der Präzision gäbe es noch Luft nach oben, erstaunlich aber auf jeden Fall, wie Dirigent, Musiker und Sänger unter diesen optisch schwierigen Umständen in jedem Moment eine zuverlässige Koordination von Purcells Partitur aufrecht halten konnten.
Reinmar Wagner
«Refugees out!»
Bei den Salzburger Festspielen gelingt eine erschütternd eindringliche, beklemmend aktuelle Neuproduktion der Oper «The Greek Passion» von Bohuslav Martinů.

Sie baumeln an Seilen herab, pinseln dicke Buchstaben an die graue Wand. Mit der Zeit wird ein Ausspruch sichtbar: «Refugees out!» Dieses «Flüchtlinge raus!» prangt fortan über der Szene wie ein Menetekel. Allein damit gelingt Regisseur Simon Stone ein grosser Coup: weil er den Stoff der Oper «The Greek Passion» von Bohuslav Martinů zeitübergreifend und universell wirksam werden lässt. Immerhin geht es um Flüchtende, die in ein Dorf gelangen, in dem die Aufführung eines christliches Passionsspiels vorbereitet wird.
Ein Teil der Dorfgemeinschaft um Priester Grigoris verweigert ihnen Hilfe, ein anderer um den Christus-Darsteller Manolios hilft den Vertriebenen. Diese soziale Spaltung endet tödlich. Die Flüchtenden müssen weiterziehen. Als Nikos Kazantzakis den Roman 1948 verfasste, meinte er nicht nur den griechisch-türkischen Krieg der 1920er Jahre, sondern auch den Zweiten Weltkrieg. Der Tscheche Martinů, der auch das Libretto erstellte, musste damals selber vor den Nazis in die USA fliehen.
Die Oper hätte eigentlich 1958 an der Royal Opera in London uraufgeführt werden sollen, aber die langen Textpassagen wurden abgelehnt. Erst 1961 erfolgte in Zürich die Weltpremiere: nach dem Tod Martinůs. Der Stoff war ihm ein persönliches Anliegen, und dass die Menschheit seither gar nichts gelernt hat, würde ihm ernüchtern. Umso wichtiger diese Neuproduktion bei den Salzburger Festspielen in der Felsenreitschule: Sie glänzte mit einer pointierten Regie samt konziser Personenführung und überragenden Leistungen aller Ausübenden.
Alles ist zweigeteilt: Als Berganhöhe, wohin die Flüchtenden ziehen, um sich in Dorf-Nähe niederzulassen, fungiert die obere Säulenreihe der Felsenreitschule. Für das Dorf unten hat Lizzie Clachan graue Wände entworfen mit Öffnungen. Auch im Boden verschwinden Menschen und Gegenstände der Vertriebenen oder werden wieder ausgespuckt. Die Flüchtenden kleidet Mel Page kunterbunt, mit Jeans, T-Shirts und Turnschuhen, die Dorfgemeinschaft ist farblos-grau gekleidet, in Requisiten die Passionsspiel-Darsteller.

Auch diese visuell klare Dramaturgie hilft dem Geschehen. Der Chor der Dorfgemeinschaft ist starr, der Chor der Vertriebenen hingegen stets in Bewegung, den Chören gelingen atemberaubende Momente. Tief ins Mark dringen zudem die Wiener Philharmoniker unter der stupenden Leitung von Maxime Pascal. Der 38-jährige Franzose hatte 2014 den «Young Conductors Award» der Salzburger Festspiele gewonnen. Er hat sich mit viel Herzblut in die Partitur vertieft, um eine unerhörte Energie und klangsinnliche Fragilität herauszustellen. Von diesem Profil profitierten die Solisten. Da ist Gábor Bretz: Auch im Timbre machte sein Bass den archaisch-strengen, bösen Charakter des Priesters Grigoris hörbar. Vom Saulus zum Paulus wandelte sich Charles Workman als Händler Yannakos, und zwischen herb-satter Dramatik und zerbrechlichen Momenten changierte Sara Jakubiak als verwitwete Katerina.
In der Sprechrolle des Dorfältesten Lada gab Robert Dölle einen mephistophelischen Fiesling ab. Ob Julian Hubbard als Hirte Panais, Aljoscha Lennert als Hirtenknabe Nikolio oder Christina Gansch als Manolios-Verlobte Lenio: Sie alle sind grosse Sängerdarsteller. Doch wie Sebastian Kohlhepp als Jesus-Darsteller Manolios mit dem Priester um Wahrhaftigkeit und Güte ringt, dieses Wortduell zählt zum Stärksten überhaupt. Am Ende wird dieser Jesus gemeuchelt und liegt in einer riesigen Blutlache. Wann endlich findet die Menschheit aus dem entmenschlichten Wahnsinn?
Marco Frei
Der Fluch im Hintergrund
In Bern ist Glucks wohl beste Oper «Iphigénie en Tauride» in einer sowohl musikalisch wie szenisch bezwingenden Version zu sehen.

Man kann sie ja wirklich verstehen, diese Klytämnestra: Da reist sie nach Aulis, zusammen mit ihrer Tochter Iphigenie, die Achill, dem strahlendsten Helden der Griechen, verlobt werden soll. Aber ihr Mann Agamemnon, König von Mykene und Anführer der Griechen im Feldzug gegen Troja, hat Anderes im Sinn. In der Inszenierung der Silvia Paoli steckt er seiner Tochter schon den Brautschleier ins Haar, wissend dass er sie gleich opfern wird, um die Göttin Artemis zu besänftigen. Die zürnt ihm, weil er eine ihrer heiligen Hirschkühe erlegt hat, und deswegen hat sie eine anhaltende Flaute über die griechische Flotte gelegt.
Es braucht für Klytämnestras Zorn die Vorgeschichte gar nicht, welche der österreichische Geschichtenerzähler Michael Köhlmeier aus zumindest apokryphen oder gleich ganz frei erfundenen Quellen fabuliert, dass nämlich Klytämnestra schon einmal glücklich verheiratet war und Agamemnon ihren Mann und ihr Kind erschlagen und sie in deren Blut vergewaltigt habe. Andererseits passt die Geschichte ganz gut in die blutige Familiengeschichte der Atriden. Der Fluch des Tantalos lastet unversöhnlich. Iphigenie, geopfert von ihrem Vater, Agamemnon, nach seiner Rückkehr aus Troja im Bad ermordert von seiner Frau Klytämnestra. Klytämnestra, erschlagen von ihrem Sohn Orest, der den Vater rächt, aber seine Mutter tötet, und deswegen, verfolgt von den Rachegöttinnen, selbst den Tod sucht.
Alle haben sie das Blut ihrer Angehörigen an den Händen. Auch Iphigenie, die – nach Tauris entrückt von Diana als ihre Priesterin – dem Wahn des Königs Thoas Menschen opfert und davon albträumt, ihren Bruder Orest zu töten. Und es um ein Haar auch tut. Eine Kette von Morden durchzieht alle Generationen dieser Familie seit dem abscheulichen Mahl, das Tantalos aus dem Fleisch seines Sohnes Pelops den Göttern vorsetzte.
Silvia Paoli erzählt in ihrer Berner Inszenierung immer wieder davon, mischt Erinnerungen, Visionen und Albträume in die Szenen, die bei Gluck eigentlich ganz schlicht von den Ereignissen in Tauris erzählen. Von Orest, der zusammen mit seinem Freund – in Paolis Lesart durchaus auch Geliebten – Pylades auf die Insel verschlagen wird und unerkannt auf seine Schwester Iphigenie trifft, die als Artemis-Priesterin auf Geheiss des Königs Thoas – hier ein ziemlich paranoider Despot – Menschen opfern muss.

Paoli inszeniert überwiegend souverän – bloss ein paar Massenszenen rumpeln ein bisschen – mit Detailreichtum in den kleinen Gesten, dann und wann auch mit einem unvermittelt aufflackernden Schuss Humor, und sie kann zudem auf die darstellerischen Qualitäten ihres Ensembles zählen. Vor allem der Orest von Jonathan McGovern spielt herausragend, mit Intensität und grosser körperlicher Präsenz. Und singen kann er auch, der britische Bariton im Berner Ensemble, mit fokussierter Kraft, aber auch mit ganz vielen leiseren Tönen.
Damit ist er freilich nicht allein in der letzten Opernproduktion der Saison von Bühnen Bern. Das Ensemble ist auf allen Positionen sehr gut besetzt. Robin Adams leiht dem Tyrannen Thoas seine durchaus auch mal brachial brutale Stimme, und wirklich sensationell singt der junge polnische Tenor Michal Proszynski den Pylades.
Ihren Abschied vom Berner Ensemble gab mit dieser Premiere die zum Publikumsliebling avancierte südafrikanische Sopranistin Masabane Cecilia Rangwanasha. Ihre Iphigenie hat ein paar etwas unsichere und ungepflegte Momente zu überstehen, macht das aber bei weitem wett mit ihrer emotionalen, dramatischen und vielseitigen Gestaltung. Gleichermassen suggestiv wie souverän-gelassen führt Sebastian Schwab durch die auf Schritt und Tritt mit reizvollen Farben und Details aufwartende Partitur von Glucks zweitletzter – und vielleicht bester Oper. Das hat Eleganz und Geschmeidigkeit, Charme und Stilbewusstsein.
Reinmar Wagner
«Iphigénie en Tauride». Bühnen Bern, Premiere 14. Mai 2023. ML: Sebastian Schwab, R: Silvia Paoli, mit Masabane Cecilia Rangwanasha, Jonathan McGovern, Michal Proszynski, Robin Adams u.a.
Entscheidungen aus Liebe auf einem steinernen Thron
Auch Enrique Mazzola hat seinen «Ring» bekommen in Zürich: So bezeichnete der italienische Dirigent die «Tudor-Trilogie» von Donizetti. Dass er «Roberto Devereux» sehr ernst nimmt, bekommt dem Stück sehr gut. Aber es kommen auch wehmütige Erinnerungen auf an eine Edita Gruberova.

Seltsam, dass diese Oper «Roberto Devereux» heisst. Gut, er ist ein Tenor, aber Donizetti hat auch die beiden anderen Opern seiner sogenannten «Tudor-Trilogie» – «Anna Bolena» und «Maria Stuarda» – nach den Frauen benannt. Roberto kann eigentlich gar nichts mehr ausrichten: Er ist bloss Opfer mit schöner Musik. Aber der Elisabetta, einer der mächtigsten Frauen der Weltgeschichte, gibt Donizetti hier die weitaus ausführlichste und interessanteste Musik. Was nicht heisst, dass der Tenor darben müsste, und zudem erhalten mit Sara ein Mezzo und mit dem Herzog von Nottingham ein Bariton überaus dankbare und vielschichtige Partien. Hier allerdings macht es sehr viel Sinn, dass die Oper nach dem Tenor benannt ist: Denn der singt um Welten schöner, besser, vielseitiger und intelligenter als der Sopran. Der Amerikaner Stephen Costello zieht alle Register und überzeugt restlos in dieser Partie. Eineinhalb Mal spürt man, dass sie allenfalls vokal schwierig sein könnte, ansonsten bietet Costello eine umwerfende Mischung aus Beweglichkeit, Kontrolle, viriler Strahlkraft und farblich reizvoll abgestufter Emotionalität.
Das ziemlich genaue Gegenteil war die Elisabetta der lettischen Sopranistin Inga Kalna. Sie hat interessante Farben zu bieten, ein Martyrium aber sind ihre Höhen: Es gibt genau zwei Möglichkeiten, wie Kalna hohe Töne singt: Selten mit einem recht undefinierbar wabernden, sehr leisen Pianissimo. Und fast immer so laut schreiend, wie es einfach nur geht. Elisabetta hat die Züge eines Monsters, gewiss. Aber Donizetti zeigt sie eigentlich immer mit glühendem Herzen. Aber selbst dort, wo sie zum Verzeihen bereit wäre, glimmt kein Funken Wärme in dieser Stimme. Es gibt heute im Opernhaus Zürich Zuhörer die lautstark jubeln nach einer solchen Arie. Dabei war es einst auf exakt diesen Brettern niemand geringeres als Edita Gruberova, die exemplarisch gezeigt, hat, wie man Donizettis Heldinnen in ihrer ganzen koloraturvirtuosen Akrobatik gesangstechnisch ernst nehmen und damit direkt ins Herz des Publikums treffen kann.
Manchmal sind ja die Dirigenten schuld, wenn die Solisten versuchen, einfach nur ihren Platz akustisch zu behaupten. Aber nicht Enrique Mazzola. Auch wenn seine Sänger dem olympischen Motto folgen, bleibt bei ihm das Orchester schön brav bei Fuss. Seine eine Domäne sind die Tempi, die sogar innerhalb der Nummern fast wie auf Knopfdruck wechseln – nun gut, den einen oder anderen Orchestermusiker hat er bei der Premiere damit noch erwischt. Aber fast immer war die Orchesterbegleitung das solidest denkbare Fundament. Und Mazzolas zweite Domäne sind – untypisch für die italienische Oper – die Klangfarben: Plötzlich glüht eine neue Geigenlinie wie ein Kaminfeuer, und wir spüren immer wieder: Mit Donizettis Orchester stecken wir ja mitten in der Romantik. Konstantin Shushakov als Nottingham hat daraus Gewinn gezogen und die dunklen Schattenseiten seiner Figur eindrücklich betont. Und auch Anna Goryachova blieb eher in den dunkleren Farben ihres Mezzos, sang ihre Sara aber mit glühender Intensität und berührendem Tiefgang.
David Aldens Inszenierung vergrösserte die emotionalen Wechselbäder in suggestiven Schattenspielen und trieb die Portrait-Malerei jener Epochen dekorativ auf die Spitze. Ein kreisförmiges Bühnen-Element sorgt raffiniert für räumliche Trennungen. Sonst war Alden klug genug, dem vokalen Schaulaufen möglichst nicht im Weg zu stehen. Eher unnötig der Lynch-Mord an einem von Robertos Gefährten, für die Figur der Elisabeth hingegen erhellend, wie ihre Härte schon in ihrer Jugend gefestigt wurde, als sie die Hinrichtung ihrer Mutter miterleben musste. Daraus leitet Gideon Davey die aussagekräftigste Chiffre des Stücks ab: Ein Thron aus Stein.
Reinmar Wagner
Donizetti: «Roberto Devereux». Opernhaus Zürich, Premiere: 5. Februar 2023. ML: Enrique Mazzola, R: David Alden, mit Inga Kalna, Stephen Costello, Anna Goryachova, Konstantin Shushakov u.a.
Manhattan, 1957
Keine Experimente: Die Neuproduktion von Bernsteins «West Side Story», die auch in Zürich und Lausanne Station macht, hält sich ans Original. Aber präsentiert es mit liebevoller Sorgfalt und sehr viel jugendlicher Energie.

Bernsteins geniale Partitur ist keineswegs arm an ikonischen Melodien, eine aber sticht heraus: «Somewhere». Nicht nur, weil es ein genialer Song ist, sondern auch, weil er eine zentrale Botschaft transportiert, die Bernstein und sein damals blutjunger Song-Texter Stephen Sondheim der tragisch endenden Liebesgeschichte einfügten und damit Shakespeares «Romeo und Julia»-Vorlage um ein Element bereicherten, das dort erst ganz am Schluss anklingt: Hoffnung und die Utopie einer friedlich zusammen lebenden Gesellschaft.
Im originalen Musical das 1957 in New York seine Premiere feierte, ist es ein namenloses Mädchen, das diese Melodie zuerst anstimmt während sich in einer surrealen Traumszene sämtliche Grenzen zwischen den rivalisierenden Jugendgangs der «Jets» und «Sharks» vermischen und sie gemeinsam ein harmonisches Ballett tanzen. In der Filmversion von 1961, die für die «West Side Story» den endgültigen Durchbruch bedeutete, wurde diese Szene jedoch gestrichen und das Lied dem Liebespaar zum Duett umgeschrieben. Und selbst Steven Spielberg verzichtete in seiner opulenten Neu-Verfilmung 2021 auf die symbolische Kraft dieser Traum-Szene.
Nicht so Lonny Price, der amerikanische Regie-Veteran, der für diese Neuproduktion der «West Side Story» verantwortlich ist. Das Inventar der unglaublich wandelbaren Bühnen-Konstruktion von Anna Louizos verschwindet und vor einem goldenen Vorhang tanzt das Ensemble in weissen Kleidern und gedämpft blauem Licht – ein sehr starker Theater-Moment. Eine namenlos Stimme singt «Somewhere» aus dem Off – was ein bisschen schade ist. Man muss nicht gleich einen Opernstar dafür engagieren, andere Produktionen haben die Zeilen dieses Liedes auch schon verteilt auf die Sängerinnen des Ensembles, was im Grunde perfekt zu dieser Szene passt. Und dass sie alle singen können, das hat diese frisch in New York gecastete Besetzung bis dahin schon eindrücklich bewiesen.
Man setzt dabei nicht auf die grosse Operngeste wie Bernstein selbst, der für seine Studio-Aufnahme 1984 bekanntlich José Carreras und Kiri Te Kanawa engagiert hatte. Sondern auf gut trainierte Musical-Stimmen. Der Tony von Jadon Webster setzt schon gleich mit seinem Hit «Maria» ein markantes Ausrufezeichen, und insbesondere die Ensemble-Szenen gewannen sängerisch starkes Profil: «America», aufgepeitscht vom souverän spielenden Orchester unter der Leitung von Grant Sturiale wurde zur Glanznummer, ebenso wie die turbulente Sozialstaat-Persiflage «Gee, Officer Krupke», hier für einmal wirklich lupenrein gesungen und nicht – wie sonst oft – fast nur gesprochen. Und das trotz einer atemberaubend witzigen Inszenierung in höllischem Tempo.
Auch sonst überzeugte die Inszenierung mit viel Liebe zu den Details. Neues hat sie uns zwar nicht zu sagen: Rassismus, Polizeigewalt, Diversität – es gibt ja dieses Mädchen, das gerne zu den «Jets» gehören würde – wären heute nicht weniger virulent als in den 50er-Jahren. Aber man hat auf sämtliche Aktualisierungen verzichtet und stellt ein Manhattan der 1950er-Jahre auf die Bühne inklusive der originalen Choreographien von Jerome Robbins, die Julio Monge mit fast schon minutiöses Detailtreue nachstellt. Dabei kann er auf ein Ensemble zählen, das die Röcke unermüdlich fliegen lässt und die Kampfszenen mit viel viriler Energie auflädt.
Ein gutes Ende nimmt die Geschichte natürlich doch nicht, aus «Macbeth» kann man schliesslich auch keinen «Sommernachtstraum» machen. Aber Maria durchbricht den Zyklus aus Hass und Rache, und das Bild, wie am Ende beide Gangs gemeinsam den toten Tony wegtragen, lässt die Hoffnung auf Frieden am Leben. Diesmal ganz ohne «Somewhere» als Hintergrundmusik, worauf viele Inszenierungen nicht verzichten wollten. Hier schon: Das Bild ist allein stärker als Bernsteins beste Musik.
Reinmar Wagner
Die Produktion gastiert noch bis am 29. Januar im Theater 11 in Zürich. Vom 21. Februar bis 5. März ist sie dann im Théâtre du Beaulieu in Lausanne zu sehen.
Auch Monster können schön singen
Die Ausgrabung der letzten Oper «Eliogabalo» des venezianischen Barockkomponisten Francesco Cavalli in Zürich wurde vor allem musikalisch und sängerisch zum Ereignis.

Die Bilder von Bieito kennt die Opernwelt mittlerweile, ein singender Dirigent ist da schon aussergewöhnlicher: Dmitry Sinkovsky nahm sich nach der Pause die typisch barocke Freiheit eines Extempores und liess seinen schönen Countertenor(!) aufblühen in einer Arie aus einer anderen Cavalli-Oper. Und er kann noch mehr der junge Russe: Auch die Barockgeige hatte er unter seinem Pult platziert und glänzte immer wieder mit kunstund geschmackvollen Diminutionen und Verzierungen. Sinkovsky hat als Barockgeiger Karriere gemacht, war Konzertmeister in so renommierten Ensembles wie «Il Giardino Armonico»oder«Il Pomo d’Oro». Seine wichtigste Aufgabe in dieser Produktion war dann aber doch die musikalische Leitung, eine Aufgabe, die er an der Spitze des bestens aufgelegten «Orchestra La Scintilla» mit sichtbarer Lust und unermüdlich antreibender Energie in jedem Moment auskostete und damit diese unbekannte Oper in tänzerischen Schwung und überaus abwechslungsreich instrumentierte Farben tauchte.
Denn es verhält sich bei Cavallis «Eliogabalo» wie bei den Opern, die wir von Monteverdi überliefert bekommen haben: Eine Instrumentierung ist nicht festgelegt, der Orchesterpart beschränkt sich auf die Notierung des Generalbasses. Sinkovsky hat aus dem Vollen geschöpft und alles aufgeboten, was zu diesen frühbarocken Zeiten verfügbar war: Blockflöten und Zinken zu den Streichern für die Melodielinien, Laute, Theorbe, Harfe, Cembalo, Orgel, Cello, Gambe und Dulzian für den Generalbass. Francesco Cavalli war Monteverdis Assistent und machte nach dessen Tod selber eine grandiose Opern-Karriere in Venedig. «Eliogabalo» schrieb er 1667, aber kurz vor der Uraufführung wurde die Oper zurückgezogen: Empfanden die Zeitgenossen die Musiksprache als zu unmodern? Wurde das Sujet als zu unmoralisch angesehen? Denn ziemlich heftig ist die Geschichte schon: Elogabal war einer jener römischen Kaiser, die sich wie Nero oder Caligula mit masslosen Exzessen in die Geschichtsbücher schrieben.
Seine Familie stammte aus Syrien, er huldigte einem obskuren Sonnenkult, der sich durch Massen-Opferungen von Tieren und Gruppensex auszeichnete. Er nahm sich Männer wie Frauen mit Gewalt, folterte und mordete und wurde nach vier Jahren selber umgebracht. Da war er gerade mal 18 Jahre alt. Nichts davon spart das Libretto von Cavallis Oper aus: Es startet mit einer Vergewaltigung, erzählt von Verschwörungen und am Laufmeter gebrochene Hochzeitsversprechen und – das dann typisch Barockoper: Von abgrundtiefer Liebesverzweiflung auf allen Seiten, die Cavalli musikalisch in wunderschönen Klage-Gesängen zelebriert.
Das Zürcher Ensemble, das bis in die kleinsten Partien grandios besetzt ist, liess sich nicht lange bitten und glänzte in den ganz unterschiedlichen Countertenor-Farben von Yuriy Mynenko und David Hansen, entfachte glühende Sopran-Power mit Anna ElKhashem, Siobhan Stagg und Sophie Junker. Beth Taylor sang Alt in einer Männerrolle, der Tenor Mark Milhofer stand als weibliche Strippenzieherin hinter den kaiserlichen Eskapaden und Joel Williams durfte als Bass tatsächlich einen Mann singen.
Calixto Bieito geht der Ruf voraus, in seinen Inszenierungen Blut und Sex ausgiebigst zu zelebrieren. Dieser Cavalli war für seine Verhältnisse fast schon zurückhaltend. Ein paar Bilder gehen unter die Haut, aber meistens werden sie durchaus adäquat zu den geschilderten Szenen entworfen und mit viel darstellerischer Intensität gespielt. Das Nacherzählen der verschachtelten Liebesintrigen interessiert Bieito nicht so sehr, er arbeitet lieber mit starken Chiffren wie Stier und Motorrad als Potenz-Symbolen oder Videos von Turnfesten oder Stierkämpfen. Und am Ende bekommt man fast den Eindruck, dass er für diesen masslosen Sex-Maniac Eliogabalo latente Sympathien entwickelt hat.
Reinmar Wagner
Cavalli: «Eliogabalo». Opernhaus Zürich, Premiere am 4. Dezember 2022. ML: Dmitry Sinkovsky, R: Calixto Bieito. Mit Yuriy Mynenko, David Hansen, Anna El-Khashem, Siobhan Stagg, Sophie Junker, Beth Taylor, Mark Milhofer, Joel Williams u.a.
Lustvolles Plantschen im Wasserschloss
Die Vampire sind los in Bern. Sie übernehmen nicht nur die Bühne, sondern am Ende auch die Welt. Und es könnte sein, dass wir Menschen das sogar gut finden sollten.

Ein Wasserschloss heisst üblicherweise so, weil es von Wasser umgeben ist. Hier aber steht es auch in den Innenräumen zentimeterhoch. Das stört vor allem Joseph Hammer, der nicht müde wird, sich über den modrigen, dunklen Ort zu beklagen. Er ist Lauras Vater, ein Industrieller, Ausbeuter, Umweltsünder, der Inbegriff von Ratio und Fortschritt ohne Antennen für Nachhaltigkeit.
ist eine aktuelle Sichtweise und beim irischen Schriftsteller Joseph Sheridan Le Fanu noch nicht so deutlich angelegt. Der Hamburger Komponist Jan Dvorak macht in seiner «Schauspieloper» für das Berner Theater aus den Vampiren bessere Menschen, die keine Zeit, kein Wachsen und kein Gier kennen. «Wir wiegen nicht viel, die Erde spürt uns kaum», sagt seine Laura am Ende. Und für die Vampire fand Dvorak die schöne Maxime: «Die Zukunft ist kein Versprechen mehr und die Vergangenheit keine Last.»
Diese Ideen finden sich noch nicht im Briefroman des irischen Pioniers der Gothic Novel. Er hat dafür dem Sujet der untoten Blutsauger, die schon seit Jahrtausenden durch die Kulturgeschichte spuken, 1872 mit seiner Novelle «Carmilla» eine reizvolle Wendung gegeben: Ein weiblicher Vampir mit lesbischen Neigungen. Das Vampir-Thema war schon immer erotisch aufgeladen, aber diese Variante zeugt im viktorianischen England dann doch von ziemlich viel mutigem Pioniergeist.
ist heute anders, und es interessiert den Berner Schauspieldirektor Roger Vontobel auch nicht besonders. Lauras Liebe zu Carmilla wird eher beiläufig erzählt. Dafür wird das Wasser zum zentralen Element der Inszenierung. Und man muss dem Berner Ensemble zugute halten, dass sich wirklich niemand davor scheut, so richtig triefend nass zu werden: Es wird nach Herzenslust gespritzt und geplantscht, man wälzt sich im Wasser und trägt die feuchten Kostüme mit nonchalanter Würde. Selbst von oben wird man nass, weil die gigantischen weissen Gaze-Schleier – Chiffre für die Gegenwelt der Vampire – dauernd nachtropfen, wenn sie nach oben gezogen werden, um wieder der düster-dunklen Menschenwelt Platz zu machen.
gibt relativ wenig Musik in diesem Stück. Vor allem das Orchester bleibt etwas unterbelichtet, denn Dvorak gibt ihm auch da, wo es sich zu Wort melden darf, eher sparsame, oft einfache Linien. Und dem schönen Mezzosopran von Amelie Baier als Carmilla hätten wir durchaus gerne länger zugehört, ebenso wie ihrer Vampir-«Mutter» Christa Ratzenböck. Dafür kriegt der Chor immer wieder Raum – für ihn ist Dvorak die beste Musik eingefallen: Übersinnlich schöne Töne, die manchmal wie aus dem Nichts erklingen.
Das liegt auch daran, dass nur die Vampire singen – den Menschen ist bloss die Sprache gegeben. Erst wenn sie sich langsam verwandeln, schleicht sich auch das Singen in ihre Stimmen. Laura erhält einen melancholischen Pop-Song, für den Genet Zegay mit ihrer Schauspiel-Stimme ganz eigene Farben findet. Auch darstellerisch wird sie je länger je mehr zur zentralen Figur im Berner Ensemble, das sich bis in die kleinsten Rollen mächtig ins Zeug legt. Nachhaltige Akzente setzte Susanne-Marie Wrage als Gouvernante. Den Vogel aber – im buchstäblichen Sinn – schoss Claudius Körber ab: Sein gackernder, bellender, knurrender Psychiatrie-Patient war eine hinreissende Performance von grossem Unterhaltungswert.
Reinmar Wagner
Jan Dovrak: «Carmilla oder Das Zeitalter der Vampire». Bühnen Bern, Premiere am 26. November 2022. ML: Hans Christoph Bünger, R: Roger Vontobel, mit Amelie Baier, Genet Zegay, Martin Butzke, Linus Schütz, Susanne-Marie Wrage, Claudius Körber u.a.
Psychoanalyse als Musical
Was 1941 in New York funktioniert hat, passt heute genauso gut: Das Theater Basel zeigt «Lady in the Dark» von Kurt Weill.

Eigentlich hätte Liza Elliott allen Grund zufrieden zu sein: Die Modezeitschrift, die sie leitet, floriert, die Männer liegen ihr zu Füssen. Aber sie kann sich nicht entscheiden, produziert Wutanfälle während Redaktionssitzungen, stösst den Mann, den sie eigentlich will vor den Kopf, lässt sich ein auf ein erotisches Abenteuer mit einem viel zu jungen Playboy. Da kann nur noch Psychoanalyse helfen: Liza schafft es, ihr Leben, ihre Liebe und ihre berufliche Leistungsfähigkeit wieder ins Lot zu rücken.
Kurt Weill hatte in Europa mit der «Dreigroschenoper» auf Texte von Brecht einen Jahrhundert-Erfolg gefeiert und auch sonst eine vielversprechende Komponisten-Karriere eingeschlagen. Aber wie wenig andere jüdische Künstler, die vor den Nazis fliehen mussten, hat er auch in der Neuen Welt erfolgreich Fuss gefasst. Schon sein Antikriegs-Stück «Johnny Johnson» war 1936 ein erster Achtungserfolg am Broadway, fast im Jahrestakt ging es weiter mit «Knickerbocker Holidays», «Street Scene», «Lost in the Stars» oder «One Touch of Venus» aus dem mit «Speak Low» sogar ein viel gespielter Jazz-Standard stammt.
«Lady in the Dark» kam 1941 auf dem Broadway auf die Bühne, die Songtexte schrieb mit Ira Gershwin ein Musical-Schwergewicht, die Story stammt vom berühmten Autor Moss Hart. Dennoch ist diese Lady kein typisches Broadway-Musical geworden. Zwar hat es solche Elemente auch: jazzigen Groove, Big Band-Blechbläser-Sound, Songs mit Sex-Appeal und perfektem Timing. Aber Kurt Weill ging weit über das hinaus, was damals am Broadway üblich war.
In den psychoanalytischen Traumsequenzen seiner Liza ruft er die ganze Klaviatur an Musikstilen ab, denen er in seinem bewegten Leben begegnet ist. In der immer mal wieder komplexen Harmonik oder in Ganzton-Reihen hört man, dass er Schüler von Busoni war, dann wieder klingt Puccinis grosse Operngeste an, die Chöre kriegen manchmal einen Schuss Carl Orff, die manchmal aufsässige Rhythmik hat Strawinsky nicht vergessen und sogar der Song-Stil aus der «Dreigroschenoper» oder «Mahagonny» klingt da und dort an – mit einem Schuss Nostalgie möglicherweise, denn diese Zeiten des Grosserfolgs in Deutschland müssen für Kurt Weill eine sehr ferne Erinnerung gewesen sein.

Er versucht auch überhaupt nicht, an solchen Erfolgen anzuknüpfen, dazu ist er viel zu sehr in Amerika angekommen. Was ihm vorschwebt ist eine neue Form eines populären «amerikanischen» Musiktheaters, und in «Lady of the Dark» mixt er handwerklich brillant die Ingredienzien zusammen, die vielleicht dazu gehören könnten. Das führt auch dazu, dass das Stück ein fast atemloses Tempo entwickelt. Die Basler Inszenierung von Martin G. Berger tut ihrerseits auch alles, um diese Spannung hoch zu halten, sorgt für permanente Bewegung, wirft Meere aus Rosen auf die Bühne, die in den Videos von Vincent Stefan kunstvoll verbrannt werden.
Berger, der schon in «La Cage aux Folles» meisterhaft den Mix aus Glamour-Welt und tiefem Blick in seelische Abgründe inszenierte, schafft es auch hier, das glamouröse Äussere dieser Mode- und Model-Welt zu verbinden mit dem Blick ins Innerste seiner Figuren. Und auch diesmal gibt es keine historische Distanz: Die Sprache ist diejenige von heute, die Themen – Work-Life-Balance, Wokeness, Gender- und Generationen-Konflikte – sind die aktuellen.
Dieses turbulente Wechselbad an musikalischen Sprachen und Stilen sass bei der Premiere im Basler Sinfonieorchester deutlich sattelfester als bei den zahlreichen Solisten oder dem Chor. Thomas Wise am Pult hat wenig ruhige Minuten und alle Hände voll zu tun. Das wird bestimmt noch griffiger, satter und präziser werden. Schon auf der Höhe ihrer Aufgaben waren die wichtigsten unter den Protagonisten, allen voran Delia Mayer in der Titelrolle. Die Schweizer Sängerin und Schauspielerin gibt der Liza ein beeindruckende Fülle von Nuancen und Zwischentönen, mit ihrer starken, vielseitigen Stimme trifft sie Weills Musik bis hin zur grossen Operngeste, und wenn sie mal die Namen ihrer Männer durcheinanderbringt, dann hätte das sogar ein perfekt zu dieser Figur passender Regie-Einfall sein können.
Auch für Stefan Kurt, die unvergessene «Zaza» aus «La Cage aux Folles», gab es wieder eine Glanznummer, eine komische diesmal: Im Song «Tschaikowsky» muss er in haarsträubendem Tempo eine irrwitzige Galerie von russischen Komponistennamen runterleiern – was er natürlich bravourös hinkriegt. Aber mehr noch: Immer wieder zeigte er seine schauspielerische Klasse in subtilen Nebensätzen, die eben in der Art, wie sie gesprochen werden, ganze Welten offenbaren. Burschikoser gezeichnet sind die weiteren Männer in Lizas Umfeld: Jan Rekeszus als viriler Kraftprotz mit einer Stimme, die auch eine Puccini-Arie stemmt, Gabriel Schneider als schwuler Revoluzzer mit zickiger Kratzbürstigkeit aber weichem Kern.
«Lady in the Dark» brachte es auf 467 Aufführungen am Broadway, und wurde mit Ginger Rogers in der Hauptrolle 1944 auch verfilmt. Kurt Weill war in den USA angekommen. Er nahm die amerikanische Staatsbürgerschaft an, bezog ein Haus in New City, eine Autostunde ausserhalb von New York und hätte wohl weiterhin fast jedes Jahr ein Musical komponiert, wenn nicht ein Herzinfarkt ihn 1950 mitten aus dem Leben gerissen hätte.
Reinmar Wagner
Menschliche Götter
Andreas Homoki und Gianandrea Noseda finden starke Lösungen für menschlichen Konflikte in Wagners «Walküre».

Ich gebe es gerne zu, ich freue mich im ganzen «Ring» am wenigsten auf den zweiten Akt der «Walküre», dies vor allem wegen des kleinlichen Ehestreits zwischen Wotan und Fricka der sich vordergründig um Ehre, Moral und Recht, in Wahrheit aber wohl doch eher um die notorische Untreue des Göttervaters dreht. So wie Andreas Homoki diese Szene aber inszeniert hat, wird sie zwar nicht besser, aber in der detaillierten Personenführung und den subtilen kleinen Gesten und Regungen der beiden Streitenden plötzlich sehr viel menschlicher und damit schlüssiger und nachvollziehbarer.
Frickas Argumentieren erhält eine geschliffene Intellektualität, und gleichzeitig wird spürbar, dass sie eigentlich auch einfach nur geliebt werden will. Wotan, der am Anfang machohaft die Füsse auf den Tisch knallt und von oben herab der «tumben» Ehefrau seine «genialen» Pläne offenbart, ist am Ende ein geknickter Mann. Selten hat man so viel Mitleid gehabt mit dem obersten der Götter.
Ähnliches passiert am Ende der Oper, wenn der wütende und rächende Wotan vor dem Bitten Brünnhildes einknickt. Man wirft Wagner – meistens zu Recht – vor, dass bei ihm alles sehr lange dauert. Aber es gibt auch Momente, in denen in zwei Sekunden die Stimmung völlig kippt, und dafür muss eine Regie eine szenische Entsprechung finden. Wie das gehen kann, hat Homoki hier mit viel handwerklicher Meisterschaft in der Personenführung bewiesen.
Ansonsten bleibt er natürlich seinem Konzept treu: Er erzählt Wagners «Ring» ohne aufgepfropfte Bedeutungs-Ebenen in einem Ambiente, das der Entstehungszeit der Tetralogie nachempfunden ist. Die archaischen Zutaten wie Hundings Esche oder der Feuerzauber-Felsen oder auch eine ganze Winterlandschaft werden einfach auf die munter rotierende Drehbühne gestellt. Die Walküren mit ihren aufgesetzten Pferdeköpfen spielen Kindergeburtstag, gerade wenn sie zum «Walkürenritt» übermütig die gefallenen Helden über die Drehbühne scheuchen – die «Wunschmädchen» haben sich die Haudegen wohl etwas anders vorgestellt.
Beeindruckend war an dieser Produktion vor allem aber auch, was Gianandrea Noseda aus dem Orchestergraben zauberte: Laut durchaus, wenn es sein soll, brachial manche Akkorde, knapp und knackig meistens die Akzente, und für die tiefen Blasinstrumente hat Noseda eine ganz besondere Vorliebe. Immer wieder aber brechen sich auch ungemein zärtliche Momente Bahn, dazu lupenreine Bläserakkorde fast in jedem Takt, und schön ausgestaltete Sololinien von den Orchestermusikern: Nicht nur die Sänger trägt Noseda auf Händen. Langsam ist er dabei fast nie, Wotans grosse Erzählung in der Mitte war fast schon ein italienisches Rezitativ, und auch sonst ist immer wieder sehr viel Zug in diesen musikalischen Linien.
Die Solisten liessen sich mitreissen und mittragen.Wenn die Orchesterwogen doch mal gewaltig anbranden, braucht man eigentlich nicht mehr zu forcieren, weil man eh untergeht, aber was gerade Tomasz Konieczny als Wotan an stimmlicher Durchschlagskraft mitbrachte, ohne dabei sein schönes Timbre zu verlieren, war ebenso beeindruckend, wie die zerbrechlichen und leisen Töne, die er seiner Figur nicht minder passend und stimmlich vielseitig zu geben wusste. Camilla Nylund zeichnete ihre Brünnhilde ähnlich differenziert, mit leisen Versuchungen, ihre Stimme etwas zu sehr zu forcieren. Daniela Köhler als Sieglinde bewies schöne Strahlkraft in höheren Lagen, ihr Siegmund von Eric Cutler sang tenoral tadellos mit ausgesuchter Deklamation, die hin und wieder mal etwas auf Kosten der Linienführungen ging. Christof Fischesser schliesslich gab einen überaus passend polternden Hunding und auch Patricia Bardon gab ihrer Fricka ein rollengerechtes Profil.
Reinmar Wagner
CEO auf Abwegen
Jan Philip Gloger lässt Mozarts Sozialkomödie «Le Nozze di Figaro» im 21. Jahrhundert spielen – und reüssiert damit.

Die turbulente Intrigenkomödie aus dem Ancien Régime mit ihren haarsträubenden Versteckspielchen und dem immer dichter und verstrickter werdenden Netz an abstrusen Schutzbehauptungen soll in einer Welt von heute funktionieren können? Das hätten wir nicht geglaubt, bevor wir Glogers wunderbar verspielte, detaillierte und immer unterhaltsame Arbeit gesehen haben.
Die Lebenskrise des Grafenpaars passt am ehesten noch zur heutigen Lebensrealität, aber das Geflecht an gegenseitigen Abhängigkeiten und Vorteilsgewährungen kann offensichtlich für ganz ähnliche Machtkonstellationen sorgen wie damals, und wenn das nicht hilft, so spielt Gloger halt ein wenig auf der Klaviatur des durchaus auch erotischen Charismas von Macht und Geld.
Jenes Phantasiekonstrukt des «ius primae noctis», des Rechts des Gutsherrn seine Dienstmädge vor der Hochzeit zu entjungfern, wird bruchlos zum «Code of Conduct» eines Unternehmens, das sich vom Zeitgeist verpflichtet fühlt, Regeln über sexuelle Belästigung in der Firma aufzustellen. Und so wie der Graf seinen Verzicht auf eben jene erste Nacht bald bereut, schräubelt der Patron auch diesmal zu seinen Gunsten an den Paragraphen herum. Bis er ausgestochen wird vom «Farfallone amoroso» Cherubino vor dessen unschuldig-raffinierter erotischer Urgewalt nicht nur die Damenwelt kapituliert, sondern auch der Graf bloss noch wie ein alter Schwerenöter aussieht.
Gloger braucht kaum Kunstgriffe – im Grunde tut er nichts anderes, als die ganze verschachtelte Komödie einfach eins zu eins nachzuerzählen. Das tut er einfach hervorragend, mit vielen Ideen und vor allem mit einer Präzision, die uns glauben machen kann, dass sich die Geschichte dieses «verrückten Tages» tatsächlich so abspielen könnte.
Das hat Tempo und Witz, aber durchaus auch Tiefgang, und dasselbe kann man von Stefano Montanaris fulminantem Dirigat gleichermassen sagen. Die Philharmonia spielt nur bei Hörnern und Trompeten auf historischen Instrumenten, dennoch ist das Klangbild nicht nur historisch informiert, sondern geradezu lustvoll aufgeladen mit der akzentuierten Rhetorik dieser Spielweisen, dabei aber auch in den abenteuerlichsten Tempi immer noch entspannt und gelassen souverän. Und wie Montanari auf dem Hammerflügel zusammen mit dem Cellisten Claudius Herrmann die Rezitative begleitet, ist allein ein wunderbarer Ausbund an musikantischer Koketterie, aber zwischendurch plötzlich auch wieder voller existenzieller Dramatik.
Eine solche Produktion ist natürlich ein wunderbarer Laufsteg für Solisten, die sich agil auf der Bühne bewegen können und auch in den turbulentesten Aktionen die quirlige Souveränität des Singens noch beherrschen. Die Susanna von Louise Alder tat sich besonders darin hervor, ihr Figaro von Morgan Pearse stand ihr aber nicht nach und der Graf von Daniel Okulitch komplettierte ein Trio spielfreudiger Darsteller und herausragender Sängerinnen. Ein Ausrufezeichen die Barbarina von Ziyi Dai, der darstellerisch wie sängerisch überaus bewegliche Cherubino von Lea Desandre hätte in gewissen Momenten noch ein Plus an stimmlicher Substanz vertragen. Umgekehrt die Lage bei der Gräfin von Anita Hartig: Eine starke, fokussierte Stimme mit Kern aber ein bisschen zu wenig Wärme und vor allem ein oft unkontrolliertes Vibrato, dem die berührenden Linien ihrer grossen Momente etwas zum Opfer fielen.
Reinmar Wagner
Mozart: «Le Nozze di Figaro». Opernhaus Zürich, Premiere: 19. Juni 2022. ML: Stefano Montanari, R: Jan Philipp Gloger, mit Morgan Pearse, Louise Alder, Anita Hartig, Daniel Okulitch, Lea Desandre, Ziyi Dai, Malin Hartelius, Yorck Felix Speer, Spencer Lang, Ruben Drole.
Ein Speer ist ein Speer und ein Drache ist ein Drache
Es ist das grosse Abschieds-Projekt von Andreas Homoki als Intendant des Zürcher Opernhauses: Zusammen mit dem neuen Generalmusikdirektor Gianandrea Noseda bringt er Wagners «Ring des Nibelungen» auf die Bühne. Das «Rheingold» zeigt nun, wie das wird: Man muss nicht unbedingt die Welt erklären mit Wagners «Ring», man kann auch einfach die Geschichte erzählen.

Ein Speer ist ein Speer, ein Ring ist ein Ring, Gold ist Gold und der Drache ist ein Drache: Andreas Homoki und sein Ausstatter Christian Schmidt erzählten das «Rheingold», den Auftakt zu Wagners Tetralogie, ohne deutenden Überau und intellektuelle Interpretationsbemühungen. Theater ist Theater, und weil Homoki es damit sehr genau nimmt und mit seinen Figuren detailliert arbeitet, funktioniert das auch bestens.
Gewisse Grenzen gibt es gleichwohl: Den Auftakt unter Wasser auf dem Grund des Rheins zu spielen, wäre eine nicht so leicht umsetzbare Absicht, und so finden wir uns gleich zu Beginn in den grosszügigen Räumen einer Villa, wie sie Wagner selbst bewohnt haben könnte, vielleicht sogar nachempfunden den Räumen am Zeltweg oder dem «Asyl» der Villa Wesendonck, in denen Wagner in den 1850er-Jahren in Zürich wohnte und den «Ring» konzipierte, dichtete und bis ins zweite Drittel «Siegfried» auch komponierte.

Während die Drehbühne munter rotiert spielen die Rheintöchter – bürgerliche Schwestern oder Zöglinge eines gehobeneren Internats – in ihren Betten mit Decken und Kissen, necken und quälen den garstigen Kerl, der lüstern ihr Spiel verfolgt. Wotan trägt einen Morgenrock in Samt und Seide, so wie ihn der Stoff-Fetischist Wagner selbst geliebt hat, Fricka erscheint als Minna, die Noch-Ehefrau jener Jahre, Froh und Donner als grossmäulige aber geistig eher minderbemittelte Brüder, und die Riesen sind mit ihren gefederten Hüten als alpine Eingeborene gezeichnet.
Nur Loge gehört nicht so richtig zu ihnen: Zwar fällt er nicht aus der Zeit, aber aus der Gesellschaft. Er hat die Garderobe und die Attitüde eines Bohémiens, und als einziger hat er nicht den geringsten Respekt vor Wotan und seinem Speer, den er zwischendurch wie ein Gepäckstück hinter Wotan herschleppt, ja er ist sogar völlig immun gegen die Versuchung des Rings, dem Wotan vom ersten Moment an erliegt und nur durch Erdas Mahnung und Warnung schliesslich von ihm lassen kann. Homoki schildert das alles sehr genau und mit Liebe zum Detail, zudem mit einer guten Portion Humor, die man diesem Stück sonst eher nicht zutraut.

Auch Gianandrea Noseda nimmt das Stück erst einmal einfach wirklich wörtlich. Auch er erzählt, und zwar mit ähnlich viel Sorgfalt in den Details wie Homoki. Seine Tempi sind enorm flexibel, die Dynamik wechselt praktisch in jedem Takt, die Spannweite zwischen Laut und Leise ist weit und wird gekonnt eingesetzt, um dramatische Momente zu grundieren, aber auch die Sänger nie zu übertönen. Deutlich hörbar wird die dezidierte Absicht, keine von Wagners so überaus vielen instrumentalen Linien zu verschenken oder untergehen zu lassen. Durchsichtigkeit ist Prinzip, aber auch die ungebrochene theatrale Geste darf nach Herzenslust ausgekostet werden. Manchmal ist das fast Filmmusik, ohne dass man es als platt oder banal empfinden würde, im Gegenteil: Sehr oft reagieren die Figuren auf der Bühne nicht nur auf das, was gerade gesagt wird, sondern auch darauf, was die Musik gerade erzählt.

Die Sängerkrone holte sich unzweifelhaft der deutsche Tenor Matthias Klink als Loge: Quirlig, agil, so wie es seiner Figur entspricht, mit zahlreichen Zwischentönen in der Stimme, die sehr gerne sehr ironisch klingen kann, selbst dort, wo wohl Wagner selbst nicht die geringste Ironie empfunden haben dürfte. Stimmlich ebenfalls eine starke Leistung zeigte Christopher Purves als sehr vielfältig artikulierender Alberich. Allerdings sollte er vielleicht den Text noch einmal gründlich memorieren: mit sinn-entstellenden Wortverdrehungen hat er deutlich über Gebühr an Wagners Schöpfung gesündigt. Tomasz Konieczny war sehr besorgt um eine angenehm differenzierte Gestaltung des Wotan, und auch in den kleineren Rollen überzeugte das Ensemble überwiegend.
Reinmar Wagner
Wagner: «Rheingold». Premiere: 30. April 2022, besuchte Vorstellung: 3. Mai 2022. ML: Gianandrea Noseda, R: Andreas Homoki, mit Tomasz Koniecny, Christopher Purves, Matthias Klink, Jordan Shanahan, Omer Kobiljak, Patricia Bardon, Kiandra Howarth, Anna Danik, Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, David Soar, Oleg Davydov, Uliana Alexyuk, Niamh O’Sullivan, Siena Licht Miller.
Violetta ist Mutter
Nina Russi inszeniert Verdis «La Traviata» in St. Gallen. Die Bühne ist ein nacktes Gerüst und das Ensemble bietet teilweise begeisternden Verdi-Gesang.

Bilder © Ludwig Olah / Theater St. Gallen
Wer Verdis «Traviata» inszeniert und die Titel-Figur als moderne heutige Frau zeigen will, steht vor einem grossen Problem: Eine solche Frau würde sich niemals vom Vater ihres Geliebten überzeugen lassen, nur wegen der Familienehre auf ihre Liebe zu verzichten. Nina Russi, junge Schweizer Regisseurin, will Violetta aber genau so zeigen, und fand dafür einen ganz brauchbaren Kniff: Ihre Violetta nämlich ist eine alleinerziehende Mutter und hat eine Tochter, für die sie eine Familie braucht, weil sie schon zu Beginn der Oper weiss, dass sie bald sterben wird.
So kann man nachvollziehen, dass sie den Bitten von Vater Germont nachzugeben bereit ist, Russis Idee überzeugt. Weniger ansprechend dagegen ist ihre Inszenierung im Allgemeinen. Zwar schafft sie eine ganz nette Party für den ersten Akt, das Fest im dritten ist dann nicht mehr so berauschend – was auch daran liegen mag, dass die Probenarbeit Pandemie-bedingt sehr turbulent verlaufen sein muss und man Chorsängerinnen und -Sänger bei befreundeten Theatern ausleihen musste, teilweise sogar aus dem Ausland.
Wenig anfangen konnte Russi mit dem Bühnenbild von Julia Katharina Berndt: Ein riesiges rundes Gerüst, das sich auf Rollen drehen lässt und den ganzen Abend hindurch auch praktisch ununterbrochen Karussell fährt. Es soll dem der Besuchertribüne nachempfunden worden sein, von der aus man im Park von Schloss Pillnitz bei Dresden einen der ältesten Kamelienbäume der Welt bewundern kann. Nun ja, die Geschichte der «Traviata» hat Verdi bekanntlich von Dumas‘ «Kameliendame» entliehen – aber mit diesem Verweis hat man noch keine handwerklich gelungene Personenführung auf die drei Etagen gezaubert.
Daran fehlt es nämlich vor allem: Viel zu oft stehen die Personen einfach irgendwo auf oder neben dem Gerüst, nur selten – Violettas Rückblick auf ihr Leben am Ende ist eine Ausnahme – kann die Konstruktion zu einem tieferen Sinn beitragen oder mehr sein als eine beliebige Plattform für Auftritte. Oben und Unten ergeben kaum Sinn und die diversen Kraxeleien sorgen auch eher selten für szenisch brauchbare Aktionen.
Immerhin durften die Protagonisten in dieser Anlage fast immer schön direkt ins Publikum singen, was sie gerne für stimmliche Show-Momente, aber auch phasenweise für begeisternden Verdi-Gesang nutzten. Die aus Südafrika stammende Sopranistin Vuvu Mpofu liess sich zu Beginn der Premiere zu ein paar wenig geschmeidigen forcierten Tönen hinreissen, zeigte einige abenteuerliche Koloraturen, wurde bald aber immer besser und bezauberte schliesslich am Ende vor allem mit ihren sehr warmen, runden, immer tragfähigen aber auch immer wieder schön aus dem Piano heraus gestalteten Linien.
Beim Italiener Francesco Castoro als Alfredo blieben ebenfalls manchmal Wünsche offen: Auch er fand im Einsatz von stimmlicher Potenz nicht immer die passende Dosierung, manchmal irritierten plötzliche raue Farben und sein etwas flackerndes Vibrato, andererseits gelangen ihm auch prächtige Spitzentöne und das angenehme helle Timbre seines Tenors sorgte für manche gelungene Phrase. Bei Kartal Karagedik als Vater Germont vermisste man stellenweise die stimmliche Noblesse, die in dieser Partie wünschenswert wäre. Manches gestaltete der Bariton aus der Türkei mit unnötig viel dramatischem Gewicht.
Der St. Galler Chefdirigent Modestas Pitrenas konnte die kaum fertig einstudierten Chöre auch nicht nachhaltig zur Präzision anleiten, das Orchester aber hatte er stets im Griff, pflegte ein Verdi-Klangbild, das nichts von der effektvollen Partitur verschenkte, das auch deren zarte und leise Seiten ausmalte, und hielt die Tempi in sinnvollen Relationen.
Reinmar Wagner
Verdi: «La Traviata». Theater St. Gallen, Premiere am 19. März 2022, weitere Vorstellungen bis 9. Juni 2022. ML: Modestas Pitrenas, R: Nina Russi, mit Vuvu Mpofu, Francesco Castoro, Kartal Karagedik (wechselnde Besetzungen).
Die Kulissen fahren Karussell
Der serbische Schauspielregisseur Milos Lolic fand in Bern keinen Zugang zur emotional zugespitzten Figurenkonstellation in Mozarts «Idomeneo». Musikalisch hingegen konnte die Produktion unter der Leitung des Berner Co-Operndirektors Nicholas Carter überzeugen.

«You gotta have faith» – das war die Schlussbotschaft von Milos Lolic. Zwar steht die Leuchtschrift auf dem Kopf, aber glauben müssen wir dennoch. Dass nämlich das, was uns Lolic hier vorsetzt, die Inszenierung einer Oper ist. Dass es um die Gefühle und emotionalen Nöte von vier aufs äusserste vom Schicksal gebeutelten Menschen geht. Um die Zerrissenheit eines Vaters, der seinen Sohn dem Gott Neptun opfern muss. Um den Sohn, der nichts weiss von dessen Seelennöten und nicht versteht, warum seine Zuneigung nicht erwidert wird. Und der zudem verliebt ist in die falsche Frau, die Kriegsgefangene aus Troja, statt die verbannte Prinzessin aus Griechenland.
Beide sind sie verliebt in den kretischen Prinzen, die eine empfindet ihre Liebe als Verrat an Volk und Familie, und die andere kommt nicht darüber hinweg, dass ihr eine Sklavin vorgezogen wird. Ein Sujet so richtig nach dem Geschmack der barocken Opera seria, und auch wenn Mozarts Musik zwischendurch von Vernunft und Aufklärung kündet, so verschenkt sie doch nichts von den emotionalen Achterbahnfahrten der barocken Vorlage. Von all dem aber war kaum etwas zu sehen in Lolics Inszenierung. Er hatte eher so etwas wie eine Kunstinstallation im Sinn, die sich vor allem darin manifestiert, dass sich die diversesten Kulissen von der Decke senken und wieder hochgezogen werden.
Wir scheinen in einem Theater zu sein, es gibt eine Bühne, Vorhänge und eben die Kulissen, die Karussell fahren dürfen. Aber ebensowenig, wie diese bewegten Bilder irgendwelchen Sinn ergeben, macht Lolic etwas aus dieser Theater-auf-dem-Theater-Situation. Die Bühne ist nicht mehr als ein Möbelstück, man ertappt sich dabei, sich in einem Liederabend zu fühlen, wenn die Sänger sich daran anlehnen wie an einen Konzertflügel.
Denn wie in einem Liederabend wird auch gesungen: möglichst in der Mitte, möglichst weit vorn, und möglichst ohne szenische Aktion. Wenn sich dann doch jemand bewegt, dann bitte höchstens in Zeitlupe. Kommt dazu, dass man diese Bühne nur von hinten betreten kann, was dazu führt, dass dauernd irgendjemand über die Bühne schlurft, um richtigen Moment entweder ganz da oder ganz weg zu sein. Und wenn als dramaturgischer Höhepunkt die Stimme des Gottes Neptun das Ende (fast) aller Nöte und ein neues Zeitalter verkündet, dann lässt Lolic dazu einen Mann in der Tracht der Aufklärung den Monitor, auf dem wir den Dirigenten sehen, aus der Verankerung reissen.
Solcherart ausgeknipst zu werden, das hat nun Nicholas Carter wirklich nicht verdient. Der australische Dirigent und Co-Operndirektor in Bern findet nach Wagners «Rheingold» auch für Mozarts Musiksprache dramatisch aufgeraute Klangfarben, oft koloriert von aufsässigen Bläserlinien und rhythmisch prägnant gesetzten Akzenten. Und hohes Niveau präsentieren die Bühnen Bern auch im Gesang, vor allem bei den Frauenstimmen: Giada Borrelli zeigt als Ilia mit ihrer hellen, klaren Stimme gestochen scharfe Linienführungen, atemberaubende Sprünge und Koloraturen, wie mit dem Meissel gehämmert. Da war bei ihrer russischen Kollegin Evgenia Asanova als Idamante doch etwas mehr Erdenschwere in den emotional zwar höchst aufgeladenen in den Details aber manchmal auch etwas ungefähren Linien auszumachen, kaschiert durch etwas viel Vibrato. Dasselbe gilt für die Südafrikanerin Masabane Cecilia Rangwanasha als Elettra, aber sie hat von Mozart das Schlussbouquet der grandiosen «Wahnsinnsarie» zu Füssen gelegt bekommen, und sie verpasste es nicht, aus diesem grandiosen Opernmoment das Optimum heraus zu holen.
Bleiben die Männer: Filipe Manu schlug sich tadellos in der einen Arie, die in dieser auf zweieinhalb Stunden Dauer gekürzten Fassung von der Partie des Arbace übrig geblieben war. Ein wenig Sorgen machen musste man sich aber um Attilio Glaser in der Titelrolle. Sein Tenor offenbarte früh Ermüdungserscheinungen und konnte offensichtlich immer mal wieder nicht recht Schritt halten mit den Ambitionen des Sängers.
Reinmar Wagner
Mozart: «Idomeneo». Bühnen Bern, Premiere: 6. Februar 2022. ML: Nicholas Carter R: Milos Lolic, mit Attilio Glaser, Evgenia Asanova, Giada Borrelli, Masabane Cecilia Rangwanasha, Filipe Manu, Christian Valle.
Die Götterburg aus dem Immobilienkatalog
«Rheingold» in Bern, der Auftakt zu Wagners «Ring». Weisst du, wie das wird? Langweilig jedenfalls nicht: Die polnische Schauspielregisseurin Ewelina Marciniak bürstet Wagners Welten-Epos parodistisch gegen den Strich. Der Dirigent Nicholas Carter setzt starke Akzente und legt den Sängern eine kammermusikalische Basis.

Dem Rhein ist Bern nicht unbedingt nahe, dem Gold schon: Nicht wegen der Nationalbank, aber schon vor dem Theater versperrt ein gigantisch goldener Fuss die Treppe, im Foyer findet sich die entsprechende Hand. Und auch die Bühne prägt das edle Metall, nicht so sehr mit den unförmigen Brocken, die meist eher wie Plastikmüll herumliegen, sondern im hehrsten Ziel von Wotans Wünschen, der Götterburg, die er feierlich «Walhall» benennt, und die golden prangt zum finalen Einzug der Götter im teuer bezahlten Palast, dem Symbol ihrer eben erst errungenen Macht.
Nur einer durchschaut die Fassade: Loge weiss jetzt schon, dass nichts wird aus der golden gemalten Zukunft der Lichtalben. Aber er hat ja auch noch nie so richtig zu ihnen gehört, er versteht sich mit allen, die sich da tummeln im Weltentwurf-Kosmos des Wagner-Rings. Das hat Ewelina Marciniak gut gesehen, die polnische Theater-Regisseurin, die als erste Opern-Arbeit in Bern gleich dieses Welten-Gleichnis zum Auftrag erhielt. Die Götter, beschränkte Kleinbürger, die hat Loge locker im Griff, auch mit Alberich, dem kriegsversehrten, auf Revanche sinnenden Schwarzalben, der eben erst Wotans neue Weltordnung akzeptieren musste, hat Loge keine Mühe.
Anspruchsvoller ist es, den Respekt der Riesen zu gewinnen, die zu Recht glauben, zum Kanon der aktuell Mächtigen zu gehören. Marciniak hat sie als Gangsta-Rapper gezeichnet, und es macht Spass, Christian Valle und Matheus França dabei zuzusehen, wie sie sich die Gestik aus den einschlägigen Video-Clips zu eigen machen. Das passt bestens, und man muss dafür Wagners Werk kein bisschen verbiegen, auch wenn man, was die polnische Regisseurin freimütig tut, sich dazu bekennt, dass man eh kaum eine Partitur lesen kann.
Offenkundig jedoch ergeben sich daraus auch gewisse Freiheiten: Wie mit choreographischer Hilfe von Dominika Knapik und sechs Tänzern und Tänzerinnen die Szenerien aufgebrochen werden, das hat Format. Beeindruckend etwa die Verwandlungs-Szene in den Riesen-Wurm, suggestiv die Folgen physischen Alterns, die Wotan eindrücklich vor Augen geführt werden.
Gut, wir wissen: Seit Wotan für Mimirs seherische Fähigkeiten ein Auge gab, hat er ein wenig das Mass desselbigen verloren. Aber immerhin sucht er seine Traum-Residenz erfolgreich im Immobilienteil des auflagenstärksten Blatts der Deutschschweiz. Dafür aber Freia, eine der Eigenen, die Garantin ewigen Lebens zudem – auch wenn man aktuelle Entwicklungen der Immobilienpreise mit einrechnet – als Preis dafür einzusetzen, das war doch dann nicht allzu klug. Nicht wegen ihr: Sie passt im schrillfarbigen Adidas-Trainer viel eher zu den Ghetto-Gängstern als in Wotans Vorstadt-Idylle, und zarte Liebesbande scheinen sich auch durchaus ernsthaft zwischen Fasolt und ihr zu entspinnen.
Das hat Marciniak auch gut gesehen, nur zwei haben etwas dagegen, Richard Wagner (siehe: Partitur) und Fasolt, der Fluch-beladen – glauben Ghetto-Gängster an sowas? – den Bruder meuchelt. Die Tänzer leeren dafür eine Tüte blutverschmierte Innereien über dem Ex-Riesen aus, mit denen Freia gedankenverloren eine Viertelstunde spielen darf. Da hat jemand entschieden zu viele Zombie- und Kannibalen-Filme gesehen.
Was Ewelina Marciniak im Berner «Rheingold» anrichtet, ist im Grunde eine Parodie ohne Parodie-Absicht. Klar ist das lustig, es gibt nichts zu gähnen, aber es gibt auch so etwas wie eine Ideen-Geschichte. Es gibt ein 19. Jahrhundert, das nicht einfach nur miefig-moralische Bürgerlichkeit kannte. Es gibt einen gewissen Herrn Wagner, dem es durchaus sehr ernst war mit seinem philosophisch aufgeladenen Welten-Epos.
Und es gibt – zum Glück – in Bern einen, der Partituren tatsächlich lesen kann: Nicholas Carter, australischer Chefdirigent des Berner Symphonieorchesters seit dieser Saison und so etwas wie das musikalische Gewissen hier. Klar, Dirigenten können – im Gegensatz zu manchen Regisseuren – von Haus aus Partituren lesen, aber wie dieser Carter das tut, ist schon extrem bemerkenswert.

Er hat nicht nur «sein» Orchester so im Griff, dass die 136 Es-Dur-Takte des Beginns wirklich ein stets intensiveres Crescendo ergeben. Er hat auch eine sehr deutliche Idee, wie er Wagners Partitur im Berner Theater klanglich zum Leben erwecken will: Mit viel Transparenz und kammermusikalischer Durchsichtigkeit, mit starken Farben der Blasinstrumente, mit ruppigen Akzenten und scharfen Kontrasten und einem Konzept, das Dramatik dezidiert nicht mit Lautstärke gleichsetzt.
Das spielt den Sängern natürlich in die Karten. Schon die Rheintöchter nutzen ohne den Zuckerguss der üblichen Wagner-Sosse selbstbewusst ihren Freiraum, und der Alberich von Robin Adams läuft nicht nur in dieser Szene zu grossem Format auf. Josef Wagner kann dem Wotan durchaus zweifelnde, unsichere Töne geben und Marco Jentsch braucht keine Heldentenor-Pose, um dem Loge Profil zu verleihen.
Wir haben sehr gerne zugehört, und wir haben uns beim Zusehen nicht gelangweilt. Aber es ist nicht vorbei: Wagners «Ring» hat bekanntlich vier Teile. Wir sind gespannt auf Siegmund als Spiderman oder Hagen als Darth Vader. Aber – wir können es nicht leugnen – den Richard Wagner, den hat Ewelina Marciniak auf ihrer Seite: «Kinder, schafft Neues», hat er 1852 der Kunstwelt zugerufen.
Reinmar Wagner
Wagner: «Das Rheingold». Bühnen Bern, Premiere am 12. Dezember 2021. ML: Nicholas Carter, R: Ewelina Marciniak, mit Josef Wagner, Robin Adams, Marco Jentsch, Gerardo Garciacano, Filipe Manu, Christel Loetzsch, Masabane Cecilia Rangwanasha, Michal Proszynski, Christian Valle, Matheus França, Veronika Dünser, Giada Borrelli, Evgenia Asanova, Sarah Mehnert.
Ein Sängerfest zur Begrüssung
Verdis «Trovatore» wird zum sängerischen Höhenflug beim Einstand von Gianandrea Noseda als neuer musikalischer Leiter am Zürcher Opernhaus.

Enrico Caruso meinte einst scherzhaft, den «Trovatore» zu besetzen, sei die einfachste Sache: Man brauche bloss die vier besten Sänger der Welt. Bei Sopran und Tenor kann das Opernhaus Zürich in seiner Neuproduktion durchaus zwei absolute Opern-Superstars präsentieren: Die lettische Sopranistin Marina Rebeka debütiert in der anspruchsvollen Rolle der Leonora, und auch Piotr Beczala debütiert als Troubadour.
Und beide gaben Vollgas: Schon in «Tacea la notte» packte Rebeka die stählernen Farben ihrer beeindruckenden Stimme aus, als gelte es, nicht nur der Vertrauten Ines von der Liebe zum geheimnisvollen Troubadour zu erzählen, sondern der ganzen Welt. Noch mehr drehte sie auf in «D’amor sull’ali rosee». Man könnte sich vorstellen, aus dramaturgischen Gründen solche Fähigkeiten etwas dosierter und nuancierter einzusetzen, aber wer will sich schon zurückhalten, wenn die Stimme in allen Lagen einfach alles möglich macht, zumal als Partner mit Piotr Beczala ein Tenor singt, der seinerseits die Schmelzlage seiner noch immer prächtigen Stimme nur allzu gerne ins Feld führt.
Die prächtige Bariton-Rolle des zwiespältigen Grafen Luna singt der hawaiianische Bariton Quinn Kelsey, der hier als Rigoletto schon für VerdiHöhenflüge sorgte, aber er bleibt gerade in den lyrischen Passagen etwas hinter den Möglichkeiten der Rolle zurück. Die am schwierigsten zu findende Stimme ist diejenige der Zigeunerin Azucena, der heimlichen tragischen Heldin dieses düsteren Stücks. Agnieszka Rehlis, die in Prokofjews «Feurigem Engel» auch in Zürich schon ihre Qualitäten bewiesen hat, brillierte in dieser Rolle bereits in Sevilla. Sie verlangt dunkel glühendes Feuer, satte Tiefe, unheimliche Klangfarben und in manchen Momenten viel dramatische Durchschlagskraft. Das alles brachte die polnische Mezzosopranistin in hohem Mass auf die Bühne, in kluger Dosierung zudem, so dass ihre grossen Szenen immer wieder mit neuen stimmlichen und farblichen Facetten angereichert wurden.
Gianandrea Noseda hat sich Verdis «Trovatore» zum Einstand als Zürcher Chefdirigent gewünscht, eine Oper, deren Intensität manchmal fast nicht auszuhalten sei, wie Noseda sagt: «Diese Oper brennt dauernd, es ist ein Dreiklang aus Dunkelheit, Feuer und Blut.» Und diese Dramatik brachte der Italiener nun wahrhaftig im Zürcher Opernhaus zum Glühen, mit knackigen Akzenten, mit unheimlich drohenden Basslinien, auch mit Lautstärke, aber weil er die dynamischen Pegel nach den Ausbrüchen immer wieder sofort weit zurücknahm, verloren diese Mittel nie an Kraft. Und mit rhythmischer Prägnanz schaffte er es ebenso, die Dramatik wieder zurückzubringen, nachdem alle vier Sänger nach Herzenslust in ihren Abschlusstönen hatten schwelgen dürfen.
Die junge britische Regisseurin Adele Thomas, die noch nicht sehr viel Erfahrungen mit der Opernbühne gesammelt hat, erhielt die Möglichkeit, dieses düstere Stück von Verdi in Zürich auf die Bühne zu bringen. Es wird oft behauptet, diese Geschichte sei derart an den Haaren herbeigezogen, dass man sie kaum vernünftig erzählen könne. Verdi allerdings hat das nicht gekümmert, sondern er hat wie vielleicht in keiner seiner Opern in dieser Dichtheit emotional intensivste Szenen aneinandergereiht, die dem Stück einen unglaublichen Sog geben.
Es ist also für eine Regie gar nicht so zwingend, eine schlüssige Story mit durchdachten Psychogrammen auf die Bühne zu bringen – und genauso hat Thomas den «Trovatore» gelesen. Sie nimmt das Rachegelübde von Azucenas Mutter («mi vendica») zum Motto, lässt es wie ein verhängnisvoller Fluch über dem Schicksal der Figuren lasten, der die Handlung unbarmherzig vorantreibt. Sie zeigt uns eine archaische Gesellschaft in mittelalterlichem Gedankengefüge und vier Protagonisten, die in diesem Geflecht aus Verhängnis, Schicksal und Aberglauben so gefangen sind, dass sie ihre Situation gar nicht hinterfragen. Damit kann man dieses Quartett auf der riesigen Treppe adrett platzieren und einfach singen lassen, während ein paar Tänzer als dämonische Höllenhunde umherschleichen, oder der Chor trottelige Monty Python-Ritter mimt.
Reinmar Wagner
Verdi: «Il Trovatore». Opernhaus Zürich. Premiere: 24. Oktober 2021, besuchte Vorstellung: 17. November 2021. ML: Gianandrea Noseda, R: Adele Thomas, mit Quinn Kelsey, Marina Rebeka, Agnieszka Rehlis, Piotr Beczala u.a.
Starke Frauen
Andreas Homoki inszeniert zur Saisoneröffnung am Zürcher Opernhaus eine durch-choreografierte «Salome». Zwei Frauen triumphieren: Elena Stikhina kraftvoll in der Titelrolle und Simone Young mit einem überaus differenzierten Dirigat der Strauss-Partitur.

Man könnte sich fast vorstellen, dass sie glücklich geworden wären, diese Salome und dieser Jochanaan. Das Begehren jedenfalls, das macht Andreas Homoki in seiner Inszenierung unmissverständlich deutlich, ist gegenseitig. Die erste Begegnung der beiden kulminiert in einer heftigen Liebesszene. Warum er ihr unvermittelt sein « Du bist verflucht » entgegenschleudert, ist allenfalls später zu erklären, wenn deutlich wird – während des Schleiertanzes, den Homoki sehr raffiniert mit allen Figuren durch-choreografiert – wenn deutlich wird, dass es da auch zwischen Herodias und Jochanaan eine leidenschaftliche Beziehung gegeben haben muss, die in ebenso leidenschaftlichen Hass umgeschlagen ist.
Und so gibt es ein Happy End nur für Salome, die am Schluss einfach hinausspaziert in die neue Welt, von der die ganze Zeit schon von aussen Kunde in diese Palast-Festung dringt. Das Herrscher-Paar bleibt zurück, hat nichts mehr zu sagen: « Man töte dieses Weib », der letzte Satz der Oper, der Befehl des machtlos gewordenen Herodes, verkommt zur hohlen Phrase. Auch Jochanaan – eigentlich schon geköpft – hatte noch einmal einen Auftritt, aber den muss man als projizierten Wunschtraum Salomes lesen, die sich schliesslich allein in einer neuen Zukunft zurechtfinden muss. Immerhin darf sie hoffen, dass die Kraft ihrer erotischen Verführungskünste auch dort recht nützlich sein dürfte. Verführerisch und erotisch ist sie, diese Salome, die Elena Stikhina mit viel Körpereinsatz spielt. Vom ersten Auftritt an weiss sie genau, wie sie mit ihren Beinen und Kleidern spielen muss, um ganz schnell alles zu kriegen, was sie will. Das ist kein launisches, verzogenes Kind, als das Salome auch schon gesehen wurde. Das ist eine junge Frau, die einfach nur weg will von der Mutter und dem lüsternen Stiefvater. Mit Jochanaan, einem hier überaus starken, schönen und faszinierenden jungen Mann, hätte die Flucht gelingen können.
Auch sängerisch gestaltete die russische Sopranstin starke und berückend schöne Linien mit durchschlagend prächtigen Tönen. Aber selbst sie kam an ihre stimmlichen Grenzen, obwohl Simone Young das Zürcher Opernorchester, das nun wieder im Graben spielen darf, immer wieder zu transparenten und leisen, farblich überaus vielseitigen Klängen anleitete. Dasselbe gilt für den Jochanaan von Kostas Smoriginas: Seine Töne in der Bariton-Schmelzlage entwickelten oft schöne Qualität, dazwischen aber gelang manches nur um den Preis grosser Anstrengung oder ging ganz unter. Am wenigsten an den stimmlichen Reserven zehren musste der Herodes von Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, während Michaela Schuster die Herodias eine Spur zu sehr als keifendes Weib ausstaffierte. Luxuriös der Narraboth von Mauro Peter.
Viel ist vom Mond die Rede in diesem Stück. Das brachte den Bühnenbildner Hartmut Meyer auf die Idee, zwei Mondsicheln zu installieren, eine auf der vielfach drehbaren Bühne und eine ebenso bewegliche an der Decke. Ein riesiger Mühlstein kann von Zeit zu Zeit malmend dem runden Bühnenhintergrund entlangfahren, was jeweils weniger Sinn ergibt. Aber vor allem mit der unteren Mondscheibe spielt Homoki virtuos und schafft es immer wieder, mit räumlichen Mitteln auch Details über die gegenseitigen Beziehungsmuster der Protagonisten zu verraten.
Reinmar Wagner
Richard Strauss: «Salome». Opernhaus Zürich, Premiere am 12. September 2021, besuchte Vorstellung: 30. September 2021. ML Simone Young, R: Andreas Homoki, mit Elena Stikhina, Kostas Smoriginas, Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, Michaela Schuster, Mauro Peter.
Von Verliebtheit keine Spur
Zum dritten Mal Monteverdi auf Schloss Waldegg bei Solothurn: «L’Incoronazione di Poppea» und die Tücken einer Oper open air.

«Wie sieht der Wetterbericht aus?» Eine sehr berechtigte Frage in jenem Moment kurz vor Octavias grosser Abschiedsarie. Der Dirigent Andreas Reize hatte sie gestellt, nachdem Windböen Notenblätter von den Pulten geweht hatten, die Kostüme und Perücken verwirbelt und nicht nur Blätter von den Bäumen geblasen hatten, sondern auch die kleinen harten Früchte der alten Linden, die auf den Holz-Korpussen der Lauten schräge Rhythmen und auf den Saiten der offenen Cembali für noch schrägere Töne sorgten.
Das Wetterleuchten zuckte schon kurz nach der Pause über den Nachthimmel, aber drei Viertel des Abends aber war es ruhig, windstill und warm gewesen. Genügend Zeit also, zu würdigen, was die Schlossoper unter der Leitung von Andreas Reize in ihrem dritten Monteverdi-Projekt – nach «Orfeo» 2017 und «Il Ritorno d’Ulisse» 2019 – an musikalischem Charisma, sängerischer Brillanz und stilistischer Kompetenz vorzuweisen hatte.
Sehr viel von allem, darf man zufrieden feststellen. Überaus vielseitig im musikalischen Gestus, in den Tempi und in der Agogik sehr lebendig und rhetorisch ausdrucksvoll leitete Reize durch Monteverdis letzte Oper. Rückgrat dabei war das sehr üppig besetzte Continuo mit je zwei Cembali und Theorben, mit Orgel, Cello, Harfe, Gambe, dem vielsaitigen Lirone, der Klänge fast wie ein Akkordeon hervorbringen konnte und dem Kontrabass-ähnlichen Violone, aber auch mit Rhythmus-Instrumenten und der temperamentvollen Barockgitarre, die immer wieder für mitreissenden Drive sorgten.
Die Streicher und die beiden Blockflöten haben in Monteverdis Opernwelt noch keine Hauptrollen. Gleichwohl boten sie reizvolle klangliche Abwechslung, zumal all die Musiker, die Reize über die letzten zwanzig Jahre in seinem Cantus Firmus Consort zusammen gebracht hatte, sich so vertraut in dieser frühbarocken Klanglichkeit, in den rhythmischen Finessen und den Reizen der Verzierungen bewegten wie Fische im Wasser.
Dazu kam ein Ensemble aus stilistisch nicht minder versierten, sängerisch bis in die kleinsten Partien souveränen Solisten, mit einer Ottavia etwa von Geneviève Tschumi, die ihre Klage-, Rache- und Verzweiflungs-Arien mit elektrisierender emotionaler Wucht unterlegte, eine Poppea von Pia Davila, die mit schillernden Zwischentönen und einem schier unerschöpflichen Reservoir an stimmlichen Nuancen zwischen echter Leidenschaft und kühlem Kalkül ihren Nero um den Finger wickelte, einem Lisandro Abadie, der dem Seneca die runde Noblesse seines frei strömenden Baritons lieh. Speziell ist die Fassung, die Reize ausgewählt hat: Sie stammt nicht wie üblich aus dem aus Venedig erhaltenen Manuskript, sondern aus einer Fassung aus Neapel, die 1920 zufällig zwischen alten Papieren entdeckt wurde. Eine CD-Einspielung davon ist geplant.
Die vife und oft übermütig-verspielte Inszenierung von Maria Ursprung sorgte immer wieder für Tempo und witzige Action. Aber sie war auch darum bemüht, die alte Geschichte von Macht, Machtmissbrauch, Verführung und Intrige aus heutiger Sicht zu kommentieren. So lange dies mit augenzwinkerndem Witz im Stil von Frauenstreik-Transparenten oder zensierten Untertiteln geschah, blieben solche Anspielungen fassbar und erhielten durchaus eine Prise Brisanz. Nachvollziehbar auch, wie manipulativ und berechnend Poppea von Anfang an ihre Pläne verfolgt: da ist kaum etwas von Verliebtheit übrig geblieben.
Der Versuch, Monteverdis Nero als unberechenbaren, grausamen Despoten ohne Rückgrat und von weiblichen Reizen leicht verführbare Marionette zu zeigen, ist weniger schlüssig gelungen. Zwar kann man mit dem Wissen um die historische Kaiser-Figur gewisse Aspekte der Geschichte sicher so betrachten. Aber Monteverdis Musik und auch das Libretto erzählen eigentlich nichts davon, so dass die plötzlich aufscheinende Grausamkeit gegenüber Poppea vor der Krönungsszene und die pantomimische Aktion des Chors während des unsterblich schönen Liebesduetts «Pur ti miro» am Ende eher befremdlich wirkten.
Reinmar Wagner
Monsterchen in St. Gallen
Die St. Galler Festspiele zeigen «Notre Dame» von Franz Schmidt – eine Opern-Rarität für 666 Zuschauer, die im Rahmen eines kantonalen Pilotprojekts die Premiere der Freiluft-Oper vor der St. Galler Kathedrale besuchen dürfen.

Sie haben grosse Operngeschichte geschrieben, die Zigeunerinnen, wenn wir an Carmen denken oder an Azucena in Verdis «Trovatore». Seit dem letzten Freitag kennen wir dank den St. Galler Festspielen eine weitere Opern-Zigeunerin, eine eher untypische allerdings. Zwar ist sie nicht minder verführerisch als Carmen, selbst den Priester lässt sie nicht unentflammt, und das Verhängnis klebt an ihrem Schicksal wie bei Azucena. Aber sie trifft keine Schuld daran, sie ist keusch und rein und edel. Esmeralda heisst sie, und natürlich kennen wir sie schon, aus dem Roman «Der Glöckner von Notre Dame» von Victor Hugo, aus einer ganzen Handvoll Filmen über den buckligen Quasimodo und aus einem ziemlich erfolgreichen Musical.
Es war im Jahr 1902 als der erst 29jährige Wiener Franz Schmidt sich entschloss, diese Geschichte zu seinem ersten Opern-Sujet zu machen. Hugos Vorlage ist ziemlich vielschichtig, nicht ganz leicht, daraus ein Opernlibretto zu formen. Zusammen mit Leopold Wilk unternahm Schmidt den Versuch, der ihm nicht in jedem Moment wirklich gut gelungen ist. Aber das muss bekanntlich kein Nachteil für eine erfolgreiche Oper sein. Franz Schmidt war Solocellist im Orchester der Wiener Hofoper und arbeitete die nächsten drei Jahre an diesem Projekt. Sein Stil ist in den Gesangslinien oft etwas beliebig und wenig konturiert, brillant dagegen im Orchester, das in allen spätromantischen Farben schillert. Elemente von Wagner, Mahler und Richard Strauss nimmt Schmidt auf und verbindet sie mit impressionistisch angehauchten Stimmungsmalereien und spanischen Tanzrhythmen, verlässt bisweilen beinahe den Rahmen der Tonalität, lässt aber auch archaische Elemente etwa im Stil von Bach oder Palestrina mit einfliessen.
Die Oper wurde 1914 uraufgeführt und hielt sich in Wien etliche Jahre im Repertoire, bevor sie vergessen wurde, wobei mitgespielt haben dürfte, dass sich Schmidt gegen Ende seines Lebens von den Ideen der Nationalsozialisten blenden liess. Aufführungen nach dem Zweiten Weltkrieg kann man an einer Hand abzählen, aber dass das Stück musikalisch sehr viele Qualitäten mitbringt, hat die St. Galler Aufführung deutlich gezeigt – auch dank der sehr wachen Dynamik und intelligenten Dramaturgie, mit welcher der Dirigent Michael Balke an der Spitze des St. Galler Sinfonieorchesters die vielen Feinheiten, Klangfarben und musikalischen Idiome dieser Partitur zum Leben erweckte.
Und ja, mindestens einen Abschnitt dieser Musik kennt man natürlich, den Wunschkonzert-Hit, der als streicherseliges «Intermezzo aus Notre Dame» Karriere machte. Dabei gibt es noch weitere Zwischenspiele, und sie sind genauso schön wie dieses eine bekannte, zu dem der Choreograf Alberto Franceschini ein einsames Paar einen neckischen Liebes-Pas-de-deux tanzen lässt, während zwei Strassenkehrer die Papierschnitzel des Karneval-Treibens vom Vorabend eher etwas nachlässig beiseite räumen.
Der Karneval ist die zentrale Chiffre, die der Regisseur Carlos Wagner aus diesem Stück destilliert hat, und die mit der beweglichen Truppe aus Tänzerinnen und Chorsängern auch dann präsent ist, wenn die Szenen eigentlich intimer wären: Wenn zum Beispiel Gringoire die abenteuerliche Geschichte seiner Verbindung zu Esmeralda erzählt, wird sie von der Gaukler-Truppe mit viel Brimborium nachgestellt. Die Requisiten dieses Jahrmarkt-Theaters sind omnipräsent, und immer wieder mischen sich unheimliche Monsterchen ins Geschehen.
Das Bühnenbild ist nicht die Fassade der Notre Dame selber, was vor den Türmen der St. Galler Kathedrale eine eher seltsame Verdoppelung ergeben würde, sondern eines ihrer zentralen architektonischen Elemente: Die gigantische Rosette. Freilich ist sie hier aller Glasfenster-Pracht beraubt und steht als jämmerliche Ruine halb zerbrochen auf der Bühne, umgeben von den Gerüsten der Restauratoren. Klar, es hat ja gebrannt in Notre Dame, und die Trümmer scheinen noch immer zu rauchen, während der Hahnenkämpfe um das Herz von Esmeralda und den Glaubenszweifeln des Archidiaconus, die Simon Neal stimmgewaltig zum Ausdruck bringt.
Auch sonst wird auf gutem Niveau gesungen: Anna Gabler ist als Esmeralda auch stimmlich die Lichtgestalt, die sie verkörpert und wirkt auch auf die Distanz szenisch sehr präsent. David Steffens als Quasimodo hat in diesem Stück leider etwas wenig Gelegenheit, seinen Bass auszuführen, man hätte ihm gerne länger zugehört. Clay Hilley als Offizier Phoebus und Cameron Becker als Gringoire sorgen für tenoralen Schmelz. Das Orchester übrigens spielt dieses Jahr zum ersten Mal nicht unter der Bühne, sondern in der Tonhalle, von wo der Sound auf die Lautsprecher übertragen wird. Ausser ein paar wackligen Chorstellen, haben sich daraus bei der Premiere keine grösseren Koordinationsprobleme ergeben.
Reinmar Wagner
Franz Schmidt: «Notre Dame». St. Galler Festspiele, Premiere 25. Juni 2021. ML: Michael Balke, R: Carlos Wagner, mit Anna Gabler, Simon Neal, David Steffens, Clay Hilley, Cameron Becker, Shea Owens (wechselnde Besetzungen)
Die Wunde auf der Maske
Janácks «Jenufa» inszeniert Eva-Maria Höckmayr in Bern als antike Tragödie mit archetypischen Figuren-Konstellationen.

Man trägt Masken auf der Berner Bühne. Nein, nicht solche – sondern uniform weisse Theatermasken. Sie machen alle gleich, die auf der Bühne stehen, haben also die exakt entgegengesetzte Funktion wie im antiken Theater, wo die Maske die dargestellte Figur möglichst deutlich und drastisch charakterisieren sollte. Gleichwohl erzählt die Regisseurin Eva-Maria Höckmayr den «Jenufa»-Stoff als antike Tragödie. Das kann man so sehen, wenn man die vorherrschenden gesellschaftlichen Zwänge in einem mährischen Dorf des 19. Jahrhunderts als kollektive Macht begreift, die eine junge Frau mit einem unehelichen Kind unter sich nicht dulden mag.
Wenn man sich aber dazu entscheidet, das naturalistische Drama, das Gabriela Preissova als «Tragödie aus dem mährischen Landleben» erzählte, und das Janácek als Opernsujet für «Jenufa» auswählte, als antike Tragödie zu erzählen, dann reichen Masken nicht. Dann müssen diese Bilder eine gewisse Kraft und Suggestivität und Konsequenz erhalten. Und das ist genau das, was in dieser Inszenierung nur hin und wieder passiert. Die statischen Anordnungen bleiben oft blutleer, wirken manchmal ein wenig wie Familienaufstellungen, und sie entwickeln kaum szenische Kraft.
Ob jemand seine Maske trägt oder nicht, scheint hauptsächlich davon abzuhängen, ob er oder sie demnächst gerade etwas zu singen hat. Und wenn die Darsteller steif herumstehen, weiss man nie so recht, ob sie es vielleicht nicht besser können oder halt die Inszenierungs-Idee ihnen etwas anderes verbietet. Denn sie ist darin nicht konsequent: Gerade die Hochzeitsszene zu Beginn des dritten Akts, atmet dann schon fast wieder einen Touch bäuerlichen Dorflebens à la «Verkaufte Braut».
«Jenufa» ist ein Stück, das weh tun darf. Diesen Schmerz von den Personen zu lösen und ins Über-Individuelle und auch Über-Zeitliche zu wenden, drängt sich fast schon auf angesichts der Kraft von Janáceks Musik. Aber dieser Kraft muss ein szenisches Äquivalent entgegen stehen, das gleichermassen die Nerven des Publikums trifft. Bei Höckmayr blieb zu viel im Ungefähren stecken. Wie ist das zum Beispiel mit der Verletzung, die Laca Jenufa zufügt? Die Wunde erscheint danach nur als blutige Strieme auf ihrer Maske. Eine gute Idee, aber stärker wäre sie, wenn nicht Lacas Anfall von Eifersucht halbherzig mit inszeniert würde, sondern diese Wunde von einer viel universelleren Verletzung zeugen würde. Ähnliche Möglichkeiten würde Janáceks Oper durchaus anbieten, und eine Inszenierung, die diesen Weg beschreitet, dürfte sie nicht verschenken.
Weit interessanter als das Geschehen auf der Bühne ist, was man hören kann. Matthew Toogood, musikalischer Leiter ad interim im Berner Theater, hat Janáceks vielfarbige Partitur für ein solistisch besetztes Kammerensemble eingerichtet. Ein gutes Dutzend Musiker des Berner Sinfonieorchesters inklusive Klavier erhalten die Verantwortung, ihre Kollegen vergessen zu lassen. Was beeindruckend gelingt, dank eines sehr engagierten und mit solistischer Präsenz auf jeder Position durchdrungenen Spiels. Von der Schönheit der Musik geht nichts verloren, was an dichten impressionistisch angehauchten Klang-Gemälden vielleicht fehlt, wird aufgewogen durch die die Kraft individuell gestalteter Linien und eine spannende, besonders durch die Klarinetten aufgefächerte Klanglichkeit, die offen legt, wie sehr diese Musik durchdrungen ist von volksmusikalischen Elementen.
Toogood selber muss für einmal nicht mässigend eingreifen, sondern sorgt mit betont ruhiger Zeichengebung für Sicherheit in der Koordination. Die Sänger müssen nicht forcieren in diesem akustischen Setting, was vor allem bei den beiden Tenören Beau Gibson als Laca und Nazariy Sadivskyy als Steva zu anmutig gestalteten Linien in stets warm-rundem Timbre führt. Die manchmal aufblitzende Dramatik in der Partie der Jenufa, vor allem aber die emotionalen Grenzerfahrung der Küsterin animierten beide Sängerinnen aber auch zu vokalen Ausbrüchen von höchster Dramatik. Vor allem Claude Eichenberger gab der Stiefmutter eine ungemein packende Intensität – und natürlich, die erfahrene Schweizer Mezzosopranistin hat die potente, bis in die Extreme ausdrucksstarke Stimme dazu. Die aus Südafrika stammende Sopranistin Johanni van Oostrum als Jenufa kann sich solche Ausbrüche ebenfalls leisten, aber sie überzeugte genauso mit lyrisch-verinnerlichten Linien, besonders schön etwa in ihrem anrührenden Gebet, das durchdrungen ist von der Ahnung, dass ihr Kind bereits tot sein könnte – auch so ein Moment, dem die Regie keine wirklich starke Bildsprache abgewinnen konnte.
Reinmar Wagner
Herbert Fritsch auf der Suche nach dem Witz in «Intermezzo» von Strauss
Grimassen, Kalauer und ein knallbunter Konzertflügel für eine auskomponierte Ehekrise. Herbert Fritsch inszenierte am Theater Basel «Intermezzo», eine der unbekanntesten Opern von Richard Strauss.

Mehr Pink geht nicht, erst recht nicht für einen Konzertflügel, der so statt in seiner edel-schwarz glänzenden Normal-Gestalt wie ein Spielzeug ausschaut. Und gespielt wird natürlich, wenn bei Herbert Fritsch ein Klavier auf der Bühne steht, durchdekliniert die Tücke des Objekts: Nichts zum Beispiel, was nicht eingeklemmt werden könnte unter dem schweren Deckel. Gespielt wird auch darauf: Gershwin zum Beispiel. Oder Richard Clayderman. An der «Elise» sind wir knapp vorbei geschrammt, aber ein bisschen «Rosenkavalier» gab’s auch, und Hubert Wild (als der Notar) griff überaus beherzt in die Tasten und legte den ziemlich virtuosen Klavierpart in der Sturmszene in Konkurrenz zum Tastenspieler im Orchester aufs Parkett. Mit perfekter Pianisten-Attitüde natürlich.
Das ist Fritsch wie man ihn kennt: Gestikulieren, grimassieren, chargieren bis zum Exzess, und auch in Basel fand er ein Ensemble, das mit sichtlicher Herzenslust und mit viel Körpereinsatz mitspielt auf der Suche nach dem möglichst unmöglichen Ausdruck für das Verhalten eigentlich normaler Menschen. Klar, dass sich da keiner wie du und ich über die knallgrüne leere Bühne bewegt. Eher schon fühlen wir uns an Monty Pythons «silly walks» erinnert. Ein überdimensionierter Lampenschirm beäugt fast wie ein lebendiges Wesen das seltsame Geschehen. Sonst herrscht Verzicht auf jegliche Requisite. Braucht einer wie Fritsch auch nicht: Es ist viel lustiger, wenn Christine und ihr Dienstmädchen im imaginierten chaotischen Wohnzimmer herumbalancieren, als wenn da tatsächlich Koffer und Kleiderhaufen liegen würden.
Dennoch gab es im Vergleich zu anderen Arbeiten dieses Kult-Regisseurs eher wenig zu lachen. Wofür Fritsch nicht viel kann. Das Hauptproblem dieser Oper ist, dass sie nicht wirklich lustig ist. Strauss wollte explizit keine Komödie schreiben. Das ist ihm gelungen. Aber entsprechend wenig Situationskomik geben die Szenen her, die aus dem wirklichen Leben gegriffen sind, und damit eben gerade nicht auf ihr komisches Potenzial hin zugespitzt wurden.
Eine echte Episode im Eheleben der Strauss’ gab den Anstoss für «Intermezzo»: 1902 erhielt der «Kapellmeister Strauss» einen kompromittierenden Liebesbrief, den seine Frau, die Sängerin Pauline de Ahna, in Missachtung des Briefgeheimnisses öffnete, die Affäre witterte und schon den Scheidungsanwalt kontaktierte. Schnell jedoch klärte sich alles in Minne: Der Kollege und Namensvetter Edmund von Strauss war der richtige Adressat des Briefes. Diese Geschichte hat Strauss 14 Jahre später, mitten in der Arbeit an der «Frau ohne Schatten» ein bisschen ausgeschmückt und auskomponiert. Dabei hat er allerdings nichts weniger als eine Neu-Erfindung der Oper im Sinn gehabt: Eine Art Konversations-Oper, dem Kino abgeschaut: kurze, realitätsnahe Dialoge, viele Schnitte, eine schnelle Handlung und alle Gefühle und Reflexionen kondensiert in sinfonischen Zwischenspielen.
Das Libretto stellte schon die erste Herausforderung dar: Hugo von Hofmannsthal, der für Strauss den «Rosenkavalier» und «Die Frau ohne Schatten» auf literarisch höchstem Niveau entworfen hatte, wandte sich von einem so banalen Sujet pikiert ab, Hermann Bahr, den Strauss daraufhin anfragte, versuchte sein Bestes, musste aber auch bald etwas entnervt das Handtuch werfen, als er merkte, dass Strauss derart feste Vorstellungen von diesem Text hatte, dass er ihm riet, diesen doch gleich selber zu schreiben. Strauss hielt sich zwar – im Gegensatz zu Richard Wagner – literarisch nicht für besonders begabt, tat es schliesslich aber doch.
Was er aber wirklich konnte, dieser Richard Strauss: er beherrschte das Orchester wie kaum ein anderer. Es gibt wohl keinen Takt in dieser Partitur, der nicht überzeugend und abwechslungsreich instrumentiert wäre: Wo man hinhört: nichts als stimmige, schlüssige, üppige Musik voller Esprit und Witz, aber auch voller Emotionen und tiefer Gefühle. Das ist ein zweieinhalbstündiger Laufsteg für alle Instrumente des Orchesters, welchen die Musiker des Sinfonieorchesters Basel noch nicht mit allerletzter Stilsicherheit, aber doch mit viel souveränem Handwerk und hörbarer Spielfreude absolvierten.
Für den Dirigenten ist es die Hölle: Unmöglich, alles im Griff zu behalten. Clemens Heil aber bewahrte vor allem Ruhe und Übersicht, sorgte für Schwung und dynamische Disziplin, so dass die Solisten kaum je zugedeckt wurden und den vorherrschenden Parlando-Ton dieses Stücks auch sprachlich ausformen konnten, ohne stets gegen ein lautes Orchester anzukämpfen. Günter Papendell und Flurina Stucki als streitendes Ehepaar taten sich darin besonders hervor. Zusammen mit Michael Laurenz als ungeschickt intrigierendem Baron Lummer führten ein auf allen Positionen gut besetztes Ensemble an. Schn, dass es wieder Live-Theater gibt. Und schön zu hören, wie stark und herzlich ein Applaus auch von bloss 50 Leuten sein kann.
Reinmar Wagner
Vom Flügel erschlagen
Premiere trotz Corona: Das Zürcher Opernhaus brachte am 11. April Offenbachs grosse romantische Oper «Les Contes d’Hoffmann» auf die Bühne im leeren Haus und streamte live ins Internet. Überzeugend war vor allem Saimir Pirgu bei seinem Rollendebüt in der Figur des zwischen Liebe und Kunst hin- und her gerissenen Dichters.

Ein Fass. Mehr braucht Andreas Homoki nicht, um den Prolog zu erzählen. Die Kostüme von Wolfgang Gussmann orientieren sich an der Zeit der Entstehung von Offenbachs grosser romantischer Oper. Homoki erzählt ohne Brimborium, er braucht sich nicht auf die Suche einer wie auch immer gearteten Originalität zu begeben, sondern er vertraut ganz auf die Situationskomik und die vom Stück schon vorgegebenen skurrilen Figuren und Szenen. Für Olympia ist kein qualmendes Alchimisten-Labor nötig, es reicht ein rotes Sofa. Und hübsch, wie eine simple Brille genügt, in Hoffmanns Augen den Anschein von echtem Leben in die Bewegungen dieses Automaten zu zaubern.
Das ist genau gedacht und mit Akribie in der Personenführung umgesetzt worden. Hoffmann träumt die Liebesgeschichten seines Lebens, aber es ist der Nebenbuhler Lindorf, die böse Figur, die in dieser romantischen Oper in wechselnder Gestalt in allen Szenen Hoffmanns diabolischer Widersacher ist, der wie ein Magier die Szenen für uns zum Leben erweckt. Für die musikliebende Antonia reicht ein Flügel – der sie auch erschlägt, einer der wenigen Bühnen-Effekte, den sich Homoki erlaubt. Und die Atmosphäre der Sommernacht in Venedig beschränkt sich auf einen Murano-Kronleuchter und ein apartes Kleid für Giulietta.
Vor allem musikalisch aber überzeugt diese erneut unter Corona-Bedingungen mit grossem Aufwand zur Video-Premiere gebrachte Produktion. Insbesondere der Hoffmann von Saimir Pirgu wirkt überaus vielfältig in seinen sängerischen Möglichkeiten, souverän im Einsatz der stimmlichen Mittel. Es ist sein Rollendebüt, aber so wirkt sein Auftritt überhaupt nicht: Seine Linien sind geschmeidig, entwickeln Wärme und Schmelz und eine schöne, noch immer runde Strahlkraft, wenn diese dann angezeigt ist, was bei Pirgu eher seltener als üblich der Fall scheint, aber auch am Ende der kräftezehrenden Partie noch problemlos in seinen stimmlichen Möglichkeiten liegt.
Die düsteren Figuren sind beim Bassbariton Andrew Foster-Williams bestens aufgehoben: Genügend Schwärze, aber auch genügend Agilität bringt der Brite mit. Die Doppelrolle Muse/Niklausse bewältigt Alexandra Kadurina souverän und klanglich, sprachlich und agogisch agil, sowohl in den bewegten, quirligen Passagen dieser Rolle wie auch in den Phasen emotionaler Bewegtheit. Und eine virtuose Koloraturgurgel wie Katrina Galka verschenkt die Möglichkeiten der Olympia keineswegs und gewinnt der Rolle auch deutlich mehr an Varianten ab, als es üblicherweise zu hören ist. Leicht weniger berauschend sang Ekaterina Bakanova die Antonia: Ein bisweilen etwas starkes Vibrato und Trübungen in der Intonation minderten den Eindruck der dramatischsten und musikalisch interessantesten Frauen-Rolle in diesem Stück.
Das zu Beginn der Pandemie vom Zürcher Opernhaus eingerichtete Konzept der Trennung von Bühne und Orchester erlaubt es auch diesmal, die Partitur in voller Besetzung zu spielen. Im Proberaum, der etwa einen Kilometer vom Haus entfernt ist, sitzen Chor und Orchester, und Antonino Fogliani hat die schwierige Aufgabe, den via Glasfaser ins Opernhaus übertragenen Klang mit den Sängern auf der Bühne zu koordinieren. Das gelang ihm sehr gut, gleichwohl schlichen sich in dieser Premiere doch einige Ungenauigkeiten und rhythmische Wackler ins Geschehen, nicht so sehr in der Koordination zwischen Solisten und Orchester, sondern innerhalb der Musikergemeinschaft der Philharmonia Zürich. Das mag auch daran liegen, dass man zwar in diesem Proberaum vermeintlich ideale Spielbedingungen hat, aber die Musiker aufgrund des Corona-Schutzkonzepts sehr viel weiter als üblich auseinander sitzen und sich dadurch schwerer hören als in den zwar engen, aber akustisch doch nicht so üblen Bedingungen eines Orchestergrabens. Ansonsten hielt sich Fogliani in den Tempi eher auf der zügigen Seite, was dem Stück gut bekommt, und bewies sehr viel Sinn für die vielen Details dieser überaus theatralisch komponierten Musik.
Reinmar Wagner
Die Produktion ist auf der Webseite des Opernhauses bis Ende April kostenfrei abrufbar. Ab Mai, falls erlaubt, besteht die Möglichkeit für Live-Aufführungen.
Verspieltes Multimedia-Spektakel
Vor 15 ausgelosten glücklichen Zuschauern und einer Handvoll Pressevertreter feierte Mozarts (leicht gekürzte) «Zauberflöte» in Basel Premiere. Eine überaus verspielte Inszenierung und ein strahlendes Liebespaar mit dem Rollendebüt von Regula Mühlemann als Pamina hätten zweifellos mehr Publikum verdient.

Die Königin der Nacht im Rollstuhl, die drei Knaben als gnomenhafte Tattergreise, die drei Damen als Elite-Kampftruppe mit Verführungspotenzial. Pamina dagegen ganz traditionell in unschuldigem Weiss. Man muss den britischen Regisseur Simon McBurney nicht nach Begründungen für die Deutung seiner Figuren fragen. Es geht ihm nicht darum, Mozarts Märchenoper zu erklären oder zu interpretieren. Das Stück ist einfach ein einziger grosser Spielplatz für ihn. Mitspielen darf man zwar nicht, aber es macht tatsächlich enorm Spass, ihm beim Spielen zuzuschauen. Eine beweglich aufgehängte, in alle Richtungen kippbare Plattform reicht als Spielfläche. Sie erlaubt die sprechende Illustration diverser emotionaler Schieflagen oder macht auf schlagende Weise deutlich, wo oben und unten ist in den Herrschaftsverhältnissen dieser Märchenwelt: Oben sind Sarastro und eine Business-like gekleidete Elite, unten die natur- und triebhaft gezeichneten Frauen mit ihrer abgehalfterten Königin der Nacht.
Aber eben, das ist es nicht so sehr, was McBurney interessiert. Das für heutiges Empfinden unsägliche Rollen- und Geschlechterbild, das Schikaneder und Mozart 1791 auf die Bühne bringen konnten, lässt der britische Regisseur und Schauspieler in seiner klischierten Plattheit praktisch unkommentiert stehen. Lieber nutzt er seine Rampe als Rutschbahn und hält sein Personal, angereichert durch acht Choristen weitere zehn Bühnenfiguren in permanenter Bewegung. Immer wieder überraschen seine ebenso einfachen wie originellen oder poetischen Ideen. Vor allem aber auch ist diese «Zauberflöte» ein nur vordergründig einfaches Multimedia-Spektakel. Die Technik, die in solchen Fällen ganze Legionen von Stolpersteinen bereit hält, verzichtet normalerweise höchst selten auf ihre Tücken. Hier schon: Man hat mit einer enorm hohen Genauigkeit geprobt, jede Projektion stimmt auf Zentimeter genau, die Überblendungen von Live-Zeichnungen und Video gelingen bruchlos, und die live erzeugten Geräusche aus dem alchemistisch anmutenden Labor-Kasten von Marquis‘ McGee gelingen in ihrem Timing stets perfekt.
Auch das Orchester wurde immer mal wieder einbezogen in diese Spielerei mit der Herstellung einer Oper – Papageno, der sich mit dem Glockenspiel abmüht, weil die dafür angestellte Tastenfrau zu lange Pause macht. Vor allem aber setzten sich die Musiker des Sinfonieorchesters Basel sehr achtbar in Szene. Die Bläser insbesondere im historischen Klangbild, mit Bassetthörnern, einem tollen Posaunentrio, tadellosen Naturhörnern und zwei Flötistinnen, die auch auf modernen Instrumenten dem Operntitel alle Ehre machten. Bei den Streichern führte die reduzierte Besetzung zu einem etwas gewöhnungsbedürftigen, manchmal in den höchsten Lagen etwas zirpenden Klangbild. Aber auch hier erwiesen sich historische Bogentechnik und der dosierte Einsatz von Vibrato als transparent und adäquat einem zeitgemässen Mozart-Klangbild. Francesc Prat der katalanische Dirigent setzte überwiegend auf runde Geschmeidigkeit und weniger auf Kontraste und Akzentuierungen. Da klang vieles ein bisschen brav, wenn auch nie unbelebt oder gar langweilig. Für meinen Geschmack hätte man die harmonische Raffinesse, die Mozart auch in dieser auf den ersten Blick einfach gestrickten Oper mit Trugschlüssen und unerwarteten Fortschreitungen doch immer wieder beweist, mit etwas mehr Nachdruck unterstreichen dürfen.
Regula Mühlemann, die Schweizer Bilderbuch-Sopranistin, hätte sich eigentlich die Salzburger Festspiele diesen Sommer für ihr Rollendebüt als Pamina ausgewählt, im Corona-gekürzten Programm hatte die «Zauberflöte» aber keinen Platz. Was für ein Kontrast: Statt im Scheinwerferlicht am wichtigsten Opernfestival der Welt sang sie nun vor 15 Zuhörern – und das Salzburg-würdig: Perfekte Intonation, strahlende Farben, berauschende Mühelosigkeit, intelligent gestaltete Linien ohne Manierismen, geschmackvoller Mozart-Gesang, wie sie es auf ihren zwei Mozart-CDs schon gezeigt hat. Ihre grosse g-Moll-Arie liess soviel Betroffenheit zurück, dass sich niemand zu applaudieren getraute. Aber auch Kai Kluge, der Tamino an ihrer Seite, musste sich kein bisschen verstecken: Ein rundes, warmes Timbre als Grundfarbe bis in die höchsten Höhen, aber durchaus auch eine schöne Portion Metall, wenn es die Situation erfordert.
André Morsch sang einen ansprechend-soliden Papageno, die Königin der Nacht von Rainelle Krause erwies sich nicht nur höhen- und koloraturensicher, sondern legte auch ganz schön viel schneidende Schärfe in ihre Rache-Arie. Die profunde Bass-Tiefe, die ein Sarastro haben sollte, brachte Patrick Zielke nicht wirklich über die Rampe. Sehr gut dagegen sagen die drei Damen, die drei Knaben von der Basler Knabenkantorei hingegen dürfen in Intonation und Präzision noch deutlich besser werden. Unterbelichtet blieben die Chöre – kein Wunder, waren die Stimmen doch nur jeweils zu zweit besetzt, und es musste erst noch mit Maske gesungen werden.
Sie hat eine glänzende Karriere hingelegt, diese Operproduktion: 2012 erarbeitete sie McBurney für Amsterdam, bald war sie an der English National Opera und am Festival in Aix-en-Provence zu sehen. Danach schaffte sie es nicht nur auf eine DVD (mit Marc Albrecht) sondern wurde an zahlreichen Opernhäusern wieder aufgenommen. Benedikt von Peter hat sie jetzt als neuer Basler Intendant zur Schweizer Erstaufführung gebracht.
Reinmar Wagner
Ein Mensch, kein Heiliger
Benedikt von Peter eröffnete das renovierte Theater Basel und seine Intendanz als Opernchef mit der Schweizer Erstaufführung von «Saint François d’Assise». Die 1983 von Olivier Messiaen komponierte Oper ist kein leichtes Stück, weder für Regie und Musiker, noch für die Zuschauer.

Dieser Supermarkt hat schon wesentlich bessere Zeiten gesehen: Längst kauft hier keiner mehr ein, die Leuchtreklamen hängen in Fetzen, bis auf ein paar Gummibäume ist das Inventar geplündert. Auf dem Parkplatz haben sich ein paar Obdachlose eingerichtet. Einer von ihnen heisst François. Und er ist krank. Ein Mensch, nichts weiter. Alles Heilige ist ihm abhanden gekommen. Der Regisseur Benedikt von Peter und sein Bühnenbildner Márton Agh entwerfen ein post-apokalyptisches Szenario, das jedem Filmset gut anstehen würde. Aghs Meisterstück sind die Pfützen, die so lebensecht aussehen, dass man gleich um die Protagonisten fürchtet, wenn sie sich mit diesem Wasser waschen. Die Schranken zwischen Publikum und Bühne sind aufgehoben: Der Graben ist gedeckt, Laufstege ziehen sich durch den Zuschauerraum, ein Teil des auf die Hälfte eingedampften Publikums sitzt auf der Bühne und das Orchester erhält die ganze linke Seite.
Ach ja, und die Vögel: Sie spielen sowohl beim Heiligen Franz wie bei Messiaen eine zentrale Rolle. Nicht nur im zweieinhalbstündigen Klavierzyklus «Catalogue d’Oiseaux», sondern in fast jedem Werk, das Messiaen nach dem Zweiten Weltkrieg komponiert hat, zwitschern Piepsmatze durchs Geschehen. Klar, dass die Vogelpredigt, die wohl bekannteste Szene aus der Heiligen-Vita von Franz von Assisi, von Messiaen wunderschön farbig ausgeschmückt wird. Auf der Bühne aber gibt es sie nicht, die Vögel: Alle tot. Einen der letzten hütet François als Fetisch in einem Aktenkoffer, wohl sein ehemaliges Haustier. Und er faltet aus schwarzem Papier Origami-Vögel. Zu Hunderten setzt er sie auf die tief hängenden Stromleitungen, wo sie wie ein Schwarm unheilbringender Raben anmuten und diese Dystopie sehr passend umrahmen.
Das ist handwerklich alles sehr gut gemacht von der Regie, aufmerksam ausgeschmückt bis in die feinsten Details. Zudem wird es von allen auf der Bühne mit viel Körpereinsatz auch sehr eindrücklich gespielt. Aber es bleibt eine fremde Geschichte. Mit Messiaens heilssehnsüchtiger Heiligenverklärung hat sie nichts zu tun. Es gibt durchaus liebenswert menschliche, auch witzige Momente in diesem Stück, man muss den Engel tatsächlich nicht unbedingt als überirdisches Wesen zeichnen, aber spätestens bei der Stigmatisierung, schliesslich beim Sterben und in der Verklärung dieses Todes legte der tief gläubige Katholik Messiaen ein derart inbrünstiges Bekenntnis in seine Musik, dass eine Inszenierung, die diese starke Spiritualisierung negiert, schlicht ins Leere laufen muss.
Peter aber bleibt trotzig auf seinem Weg bis zum Ende, bricht laufend die Emphase, die Messiaen zunehmend suggestiv aufbaut. Am Ende bleiben ihm dafür nur noch die Pausen, in denen er mit klapperndem Geschirr oder stampfenden Schritten seine längst verlorene Stellung zu halten versucht. Es gibt einfach Musik, die sich auf der Opernbühne mit vehementer Kraft auch den besten Ideen noch so versierter Regisseure widersetzt.
Messiaens Musiksprache ist immer sehr gestisch, sehr rhetorisch, arbeitet gern mit wiederkehrenden Mustern, die hörend problemlos nachvollziehbar sind. Clemens Heil und die Musiker des Sinfonieorchesters Basel, gerade die virtuosen Schlagwerker, schafften es eindrücklich, solche Muster auf Anhieb exakt wieder im gleichen Charakter zu treffen. Den Sängern gibt Messiaen sehr viel Raum, indem er sie nur sehr sparsam begleitet und das Orchester oft kommentierend zwischen ihre Linien setzt.
Und die beim Komponisten Oscar Strasnoy in diesem Sommer eilig in Auftrag gegebene Kammerversion der riesig besetzten Partitur – für immer noch 40 statt über hundert Musiker – sorgt zusätzlich für durchsichtige Transparenz. Sängerisch musste sich niemand Vorwürfe gefallen lassen, beeindruckend waren Rolf Romei als Leprakranker, Alfheiour Erla Guomundsdottir als Engel und vor allem Nathan Berg in der Titelrolle: eine Parforce-Leistung des kanadischen Bassbaritons, der praktisch pausenlos auf der Bühne stand, aber bis zum Ende stimmlich nie Kompromisse eingehen musste.
Reinmar Wagner
Auch Noah ist verloren
Im April hätte diese «Csárdásfürstin» schon Premiere haben sollen. Jetzt kam sie kurz nach der Saisoneröffnung mit Mussorgskys «Boris Godunow» auf die Bühne des Zürcher Opernhauses. Der deutsche Schauspielregisseur Jan Philipp Gloger griff mit vollen Händen zu und liess Operettenseligkeit im Weltuntergang enden.

«Was ist das denn für ein Scheisstext, Alter?» Sylva bringt es auf den Punkt: Sehr in ihrer Enstehungszeit um 1914 verhaftet sind diese Texte. Dennoch hat man in Zürich viel davon stehen lassen, gibt dem oberflächlichen Trallala und dem und für heutiges Empfinden unsäglichen Chauvinismus die Chance, sich selber zu denunzieren. Aber nicht nur: das Virus kriegt seine Pointe und die ironische Distanz bleibt gewahrt: «Mann, in welcher Welt lebst du eigentlich?», darf Sylva auch mal fragen. Offensichtlich ist es eine Welt von heute: Wir sind auf einer Luxusyacht, auf der sich eine vergnügungssüchtige Clique Superreicher zurückgezogen hat und die Augen verschliesst vor den Problemen der Welt: die Pole schmelzen, der Ozean ist vermüllt und die Vögel fallen tot vom Himmel. Aber auch die offenen Fragen ihrer Beziehungen und Abhängigkeiten ignorieren sie, feiern mit japanischen Nutten, amüsieren sich bei billiger Südsee-Folklore, und selbst Weltuntergang und Apokalypse hindern sie nicht daran, vor staunenden Aliens doch immer noch Walzer zu tanzen.
«Was ist das denn für ein Scheisstext, Alter?» Sylva bringt es auf den Punkt: Sehr in ihrer Enstehungszeit um 1914 verhaftet sind diese Texte. Dennoch hat man in Zürich viel davon stehen lassen, gibt dem oberflächlichen Trallala und dem und für heutiges Empfinden unsäglichen Chauvinismus die Chance, sich selber zu denunzieren. Aber nicht nur: das Virus kriegt seine Pointe und die ironische Distanz bleibt gewahrt: «Mann, in welcher Welt lebst du eigentlich?», darf Sylva auch mal fragen. Offensichtlich ist es eine Welt von heute: Wir sind auf einer Luxusyacht, auf der sich eine vergnügungssüchtige Clique Superreicher zurückgezogen hat und die Augen verschliesst vor den Problemen der Welt: die Pole schmelzen, der Ozean ist vermüllt und die Vögel fallen tot vom Himmel. Aber auch die offenen Fragen ihrer Beziehungen und Abhängigkeiten ignorieren sie, feiern mit japanischen Nutten, amüsieren sich bei billiger Südsee-Folklore, und selbst Weltuntergang und Apokalypse hindern sie nicht daran, vor staunenden Aliens doch immer noch Walzer zu tanzen.
Klingt nach Denunziernen und Lächerlich-Machen. Aber das tut der Regsseur Jan Philipp Gloger nicht mit der «Csárdásfürstin». Er nimmt Kálmáns Operette, die kurz vor Ausbruch des ersten Weltkriegs entworfen und begonnen, nach einem Unterbruch erst 1915 fertig gestellt und uraufgeführt wurde, durchaus ernst. Aber er suchte darin nach den Vorahnungen der Katastrophe, wurde dabei in reichem Mass fündig und transportierte diese Funde in unsere Tage. Dabei schöpft er aus dem Vollen, setzt der klischierten Üppigkeit der Operette seinerseits ein Maximum an Klischees und Üppigkeit entgegen, überzeichnet mit viel Spiellust und Ironie nach Kräften. Das ist sicher nie langweilig, aber bisweilen doch arg brachial, und für die dystopische Wendung in seiner Inszenierung hat Gloger den denkbar grössten Holzhammer gefunden.
Nicht mal Noah kann diesmal die Erde retten: Die putzigen Tierchen sterben, die Erde explodiert und irgendwo auf dem staubigen Mars stranden die beiden übrig gebliebenen und im Operetten-Happy End eigentlich zufrieden vertauschten Paare vor den Augen ungläubiger Aliens. Martin Zysset begleitet sich im eingefügten Couplet «Der alte Noah» aus der fast gleichzeitig entstandenen Operette «Die Faschingsfee» von Kálmán selber auf der tragbaren Drehorgel: ein kabarettistisches Kabinettstückchen vom feinsten.
Differenzierte Töne findet Gloger nicht in diesem Stück, das bleibt dem Dirigenten Lorenzo Viotti vorbehalten der immer wieder neben Vollblut-Walzer auch ganz leise und nachdenkliche Melodielinien einfordert. Wobei die Ton-Übertragung in dieser weniger von einem vielschichtgen Orchesterklang als oft von solistischen Linien geprägten Besetzung einen weniger bezwingenden Eindruck macht als noch im «Boris Godunow». Dennoch gehen die Sänger manchmal etwas unter, weniger in den Momenten der grossen vokalen Geste, als in mittleren Lagen und Situationen – oder auch beim Sprechen, auf der Operettenbühne immer wieder ein schwieriges Thema. Annette Dasch und Pavol Breslik singen das erste Paar, Rebeca Olvera und Spencer Lang das zweite. So richtig herzhaft vertraut mit ihren Partien und diesem Stück scheinen sie alle noch nicht so ganz zu sein, dafür war die Proben-Situation dieser Produktion, die eigentlich im April schon hätte Premiere feiern sollen Pandemie-bedingt zu ungünstig und die akustische Anlage mit dem vom externen Probensaal übertragenen Orchester wohl noch zu ungewohnt.
Reinmar Wagner
Lustvolle Göttersoap
Berlin: Der Haussegen bei Wotans hängt schief – die frisch freche «Rheingold»-Version der Deutschen Oper wurde als willkommener Wiederanfang von Graham Vick auf dem Parkdeck des Hauses inszeniert.

Sie war richtig greifbar an diesem lauen, frühen Sommerabend in Berlin, die Freude darüber, dass wieder gespielt wurde. Dass man nach vielen Wochen kultureller Isolation endlich wieder Publikum sein durfte. Wenn auch unter ganz besonderen Vorzeichen und mit den längst bekannten Einschränkungen. Die aufgesetzte Maske am Eingang nahm man beinahe als alltägliche Berliner Gewohnheit auf. Und die verpackten und sorgfältig verschnürten Stühle zwischen den besetzten Sitzen erweckten fast den Eindruck, als wäre Christo noch einmal zurückgekehrt und möchte uns seine Poesie erleben lassen.
Doch auffallend viele Besucherinnen und Besucher zelebrierten das Berliner Opernrevival nach Monaten der geschlossenen Theatertüren schon vorher. Sie trafen sich zum Bier im opereigenen Gartenrestaurant oder stimmten sich bei einem Glas Weisswein auf diesen Opernabend ein. Premierenstimmung in Zeiten von Corona sozusagen.
Eigentlich hätte ja Wagners «Rheingold» im Juni den Auftakt der Deutschen Oper zu einem neuen «Ring» machen sollen. Dem ersten seit Götz Friedrichs legendärem Nibelungen-Tunnel von 1984, der erstaunlich lange Jahre nicht nur spielbar blieb, sondern viel von seiner Faszination bewahrte. Doch das Corona-Fallbeil zwang Stefan Herheim und die Deutsche Oper wie so viele andere in die Knie. Nach der Lethargie der ersten Lockdown-Wochen regte sich jedoch kreativer Pioniergeist, erst recht angestachelt durch die Lockerungen im Juni. Entstanden ist daraus eine etwas gekürzte, ohne Pause durchgespielte Fassung von Wagners «Ring»-Vorabend mit einem auf 22 Musikerinnen und Musiker eingeschränkten Orchester und einer um zwei Rollen entschlackten Besetzung. Gespielt wurde nicht auf der Bühne des grossen Hauses, sondern draussen, im Hinterhof sozusagen, auf dem Parkdeck hinter der Oper. Gerade dieser nüchterne städtische Nutzraum erwies sich für das Unterfangen als ausgesprochen stimmig. Mehr noch: Mit dem Spiel wurde ihm so etwas wie eine eigene Poesie eingehaucht, für dieses eine, ausserordentliche Mal im Frühsommer 2020. Wenn wir in durchwegs improvisiertem, aber künstlerisch höchst motiviertem Geist gleichsam zu Wotans nach Hause geladen werden.
Eine wahrlich schräge Göttersoap erleben wir an diesem Abend. Es geht wunderbar auf, die ganze Göttersaga als nur allzu menschliche Geschichte um Macht, Lug und Trug erzählt und lustvoll vorgeführt zu bekommen. Die ganze Aufführung prägt Werkstattcharakter: ein Intrigenstadel der derberen Sorte, wobei der Haussegen bei Wotans von allem Anfang an gefährdet ist. Die beiden Riesen treten als windige Immobilienmakler mit Mafiosotouch auf.
Natürlich kann eine Kammerformation mit 22 Musikerinnen und Musikern die Wagner’schen Klangwogen nicht vergessen machen. Dennoch hört man vom ersten Takt an überaus erfreut hin: wie erstaunlich farbig, blühend sich der Klang auch in der kammermusikalischen Orchesterfassung von Jonathan Dove entfaltet. Und wie GMD Donald Runnicles alle anfeuert und versucht, die Spannung hochzuhalten, musikalische Leidenschaft spürbar zu machen.
Frisch und erfrischend kommt diese improvisierte «Rheingold»-Skizze daher. Auch das Sängerensemble der Deutschen Oper ist mit Lust und Freude dabei und lässt uns immer wieder erfreut daran denken, wie unverbraucht Oper klingen kann. Hat etwa die erzwungene Corona-Abstinenz unsere Ohren wieder feinhöriger gemacht? Am Schluss gab es Jubel und Beifall für alle Beteiligten. Unverkennbar die Freude an dieser zarten Wiederauferstehung der Gattung Oper. Bleibt die Hoffnung, dass es im Lauf des Herbsts doch irgendwie wieder weitergehen könnte. Womöglich tatsächlich auf der Bühne. Immerhin ist der neue «Ring»-Start in der Inszenierung von Stefan Herheim – nun mit der «Walküre» – noch immer auf September geplant.
Andrea Meuli
Aus der Wüste auf den Laufsteg
Das Theater St. Gallen profiliert sich weiter als Musical-Bühne: «Wüstenblume» erzählt die bewegte und bewegende Geschichte des somalischen Mädchens Waris Dirie, das als Top-Model und Aktivistin gegen die Beschneidung von Mädchen weltweite Beachtung erhielt. Die Premiere des rasanten Musicals am Samstag wurde zum bejubelten Erfolg.

So hat wohl noch kein Musical aufgehört: Mit dem Rascheln von Papier, das zerknüllt wird. Es wurde nicht ganz klar, was uns der Regisseur Gil Mehmert damit hat sagen wollen. Dass Papier geduldig ist? Dass die Kraft des Wortes und der Vernunft, mit der Waris Dirie gegen die trotz aller Verbote in vielen Ländern und Gesellschaften hartnäckig praktizierte Beschneidung von Mädchen ankämpft, begrenzt ist angesichts von obskuren Stammestraditionen und skrupellosen gesellschaftlichen und religiösen Leadern, die noch immer für Leid und Tod von Tausenden von Kindern verantwortlich sind?
«Wüstenblume» ist die bewegende Geschichte eines dieser Opfer, die Geschichte des Mädchens aus Somalia, das mit dreizehn vor der Zwangsheirat zu Fuss durch die Wüste flüchtete, sich in Mogadischu und London als Dienstmädchen und Putzhilfe durchschlug, von einem Star-Fotografen entdeckt wurde und schliesslich eine glänzende Karriere als Top-Model einschlagen konnte. Waris Dirie heisst die heute 55jährige Frau, die sich seit vielen Jahren engagiert einsetzt gegen die Beschneidung von Mädchen.
Sie hat ihre Geschichte unter demTitel «Wüstenblume» schon 1998 in einer aufsehenrregenden Autobiographie erzählt, die 2009 auch verfilmt wurde. Und jetzt erhielt das Theater St. Gallen die Ehre, den Stoff zum ersten Mal als Musical zu produzieren. Gewonnen dafür wurde Uwe Fahrenkrog-Petersen, ein sehr erfolgreicher deutscher Songschreiber, der zum Beispiel Nenas Welthit «99 Luftballons» komponiert hat – und ihn auch kurz zitiert, wenn sich Waris und ihre Freundin Marilyn in einer Londoner Diskothek vergnügen.
Zusammen mit Gil Mehmert, der für Story und Text verantwortlich ist, haben sie sich die Stationen dieses ereignisreichen Lebens vorgenommen – etwas zu ereignisreich für ein Musical, und den Mut zur Lücke haben die beiden Schöpfer nicht gehabt. So jagen sich vor allem im ersten Teil die Szenen und Stationen in fast schon atemlos dichter Folge. Viele Song-Ideen werden nur kurz angetippt – manche kehren danach wieder, andere bleiben Episode, was auch zur Folge hat, dass bis zum Titel-Song, der kurz vor Ende des ersten Teils auftaucht, kaum ein musikalischer Gedanke hängen bleibt.
Im zweiten Teil wird es etwas besser – da ist zum Beispiel ein hübscher Tango für die Agenturchefin Veronica oder eine Ballade für den Schein-Ehemann O’Sullivan, der ins Spiel kommt, weil ein reisendes Top-Model natürlich einen brauchbaren Pass benötigt. Zwei Nummern auch, die deswegen überzeugen, weil beide Darsteller – Susanna Panzner und Jogi Kaiser – stimmlich-sängerisch die vielseitigsten Facetten im Ensemble offenbarten und am längsten der heute im Musical offenbar allgegenwärtigen Unsitte Widerstand leisteten, alle lauten Passagen mit enorm viel Druck auf der Stimme zu singen, worunter fast immer die Intonation leidet, gerade auch bei Kerry Jean, die die fast omnipräsente erwachsene Waris singt.
Dennoch erhält sie kaum Gelegenheit zu grossen Song-Momenten, zu dicht ist der Fahrplan der Szenen. Fahrenkrog-Petersen schreibt überwiegend rockig, mag Balladen, greift immer wieder zu afrikanischen Trommeln und anderen Ryhthmusinstrumenten, bringt den umfangreichen Text zwischendurch aber auch in opernhaftem Parlando unter. Die Welt des Laufstegs und der Mode – deren Glanz und Glamour für ein Musical eigentlich ein gefundenes Fressen wären und auch choreographisch einiges hergeben würden – bleibt eher Episode. Viel mehr Raum nehmen die Nöte der kulturell entwurzelten jungen Frau und vor allem das Trauma der Beschneidung ein.
Diese Vorlage ist keine geringe Herausforderung für eine Regie, aber es ist Gil Mehmert virtuos gelungen, diesen lebhaften Reigen schnell aufeinander folgender Szenen zu arrangieren und schlüssig aneinander vorbei zu bringen. Eine grosse Hilfe ist das sehr bewegliche Bühnenbild von Christopher Barreca, der in der Not auch verspielt witzige Ideen einbringt. – Standing Ovation von einem begeisterten Premierenpublikum, und ein besonders herzlicher Applaus für den Ehrengast Waris Dirie.
Reinmar Wagner
Schattenspiele für eine Lichtgestalt
Sie ist wieder da, Cecilia Bartoli, fulminant und expressiv wie immer: Am Zürcher Opernhaus prägte sie mit ihrer unnachahmlichen Präsenz am Sonntag die Premiere von Glucks Oper «Iphigénie en Tauride». Und es tat ihrer Ausstrahlung nicht den geringsten Abbruch, dass die Inszenierung von Andreas Homoki sie meistens im Dunkeln stehen liess.

Wenn im Zürcher Opernhaus in den vergangenen Jahren die Bühne dunkel blieb, war das ein gutes Zeichen, denken wir an den grandiosen «Macbeth» von Barrie Kosky oder an Christian Spucks Verdi-Requiem. So eindeutig ist es diesmal nicht, wenn der Hausherr Andreas Homoki eintaucht in Glucks Version der Atridensage «Iphigénie en Tauride». Tatsächlich kann einem schwarz werden vor Augen, wenn man sich mit dieser Familie beschäftigt, in der zum Festmahl Söhne geschlachtet, heimkehrende Krieger im Bad gemeuchelt oder die eigene Mutter von den Kindern mit der Doppelaxt erschlagen wird.
Rabenschwarz ist der gegen hinten ins Unendliche verlängerte Raum, der nur manchmal scharf gezackte Risse aufweist, durch die aber keine heile Aussenwelt lockt, sondern unheimlich giftiges Licht in den schwarzen Tunnel drängt und pittoreske Schattenspiele veranstaltet mit den Menschen die hier gefangen sind. Es sind symbolhafte Bilder, die zusammen mit den wenigen, aber bewusst zeichenhaft gesetzten Gesten der fast immer auf den Boden niedergedrückten Menschen zeugen von schwersten Seelennöten in dieser kaputten Familie.
Zur Ouvertüre – ein selten schöner musikalischer Sturm, der korrespondiert mit dem inneren Sturm in Iphigeniens Seele – erzählt Homoki pantomimisch die unheilvolle Familiengeschichte der Atriden nach, ein Kunstgriff, der bestens funktioniert. Dass Klytämnestra sich am Ende als Diana outet macht zwar dramaturgisch kaum Sinn, stört aber auch nicht wirklich. Eher schon, dass Homoki dem Happy End offensichtlich tief misstraut. Denn eigentlich wäre gerade diese Iphigenie eine paradigmatische Lichtgestalt: Sie ist es, die aus eigener Kraft den bösen Fluch durchbricht, der auf ihrer Familie liegt, schon bevor sie weiss, dass mit Orest ihr Bruder eines der Opfer ist. Dass Diana und die Götterwelt ihre Entscheidung am Ende gutheissen, macht sie nicht kleiner – aber schöner, jedenfalls, wenn Gluck dafür alles aufbietet was das Orchester seiner Zeit an Jubelfarben zu bieten hat. Aber eben: Denen traute die Regie nicht.
>Und Homoki verschenkte mit seiner Orgie in Schwarz noch etwas anderes: Die fast schon sprichwörtlich expressive Mimik der Bartoli. Gerade vom ausdrucksvollen Spiel ihrer Augen ist im Dämmerlicht kaum etwas auszumachen. Umso mehr verlegt sie sich auf die Möglichkeiten ihres Gesangs, spielt mit musikalischen Akzenten und vokalen Schattierungen, mit den Klangfarben ihrer nicht grossen, aber ausdrucksvollen Stimme, und virtuos mit den Möglichkeiten der Sprache: Kein Ton, der nicht irgendwie aufgeladen wäre mit einer Farbnuance oder einer Vibrato-Variante. Man könnte sich eine Iphigénie mit viel mehr Melos und Linie vorstellen, gerade weil Gluck sich sehr bewusst abgewendet hat von der Vokalartistik der Barockzeit, aber so tickte sie noch nie, La Bartoli: Alles an ihr ist übersprudelnde Expressivität, und dafür wird sie schliesslich auf der ganzen Welt geliebt.
So liess sich auch der Orest an ihrer Seite, Stéphane Degout, anstecken von ihrer dramatischer Attitüde. Verbiegen musste er sich nicht dafür, auch der vielseitige französische Bariton ist ein Sänger, der gerne die Regionen abseits des puren Schönklangs sucht und sängerisch in die Extreme geht. So blieb es dem Pylade von Frédéric Antoun vorbehalten, geschmeidige Melodiebögen zu gestalten, wofür sich sein einnehmend warm und weich strömender Tenor auch bestens eignet.
Gleichermassen suggestiv wie souverän-gelassen führte der Italiener Gianluca Capuano durch die auf Schritt und Tritt mit reizvollen Farben und Details aufwartende Partitur von Glucks zweitletzter – und vielleicht bester Oper. Das hat Eleganz und Geschmeidigkeit, alles Kratzbürstige und Raue, das man noch vor wenigen Jahren assoziierte mit historischen Instrumenten, ist wie weggeblasen, ohne dass dabei die musikalische Dramatik je geglättet worden wäre. Einen Zacken zulegen an Präzision könnte die Originalklang-Fraktion «La Scintilla» des Zürcher Opernorchesters nach wie vor, da klafft noch eine kleine Lücke zu den Besten der Zunft. Capuano allerdings spornte die Musiker auch immer wieder an, wählte oft überaus rasche Tempi und liess eisern auch in schwelgerischen Wohlfühlmomenten nicht das geringste Nachlassen zu, was sich gerade in den vielen reizvollen Chören der Priesterinnen positiv niederschlug: wunderschön komponiert von Gluck, aber auch wirklich wunderschön gesungen von den Zürcher Chorfrauen.
Reimar Wagner
Herumstehen im Horror-Labyrinth
Barbara Frey versetzte Mozarts Oper «Le Nozze di Figaro» in einen faszinierenden Irrgarten, blieb dabei aber eher betulich. Ganz anders die Sänger und das Orchester unter der Leitung von Christian Curnyn: Spritziges, lebendiges Musiktheater im Theater Basel.

Horror-Tapeten kennen wir von vielen Theater-Inszenierungen, diese hier von Bettina Meyer aber darf sich ruhig unter die Top Ten einreihen: überdimensionale florale Muster ziehen sich wie im Spiegellabyrinth in unendliche Ferne. Lustig, wenn dann die Figuren hinten auf der Bühne plötzlich viel zu gross erscheinen, lustig auch, wie sie durch die diversen Gräben schleichen, die dieses Labyrinth durchziehen. Bald wird klar, dass dieser Einheitsraum ein grosser grüner Irrgarten ist, in dem sich zum finalen Höhepunkt dieser Verwechslungskomödie die Paare wieder finden. Und dann, nach der glücklichen Auflösung der vertauschten Rollen und dem von Mozart musikalisch so berührend gezeichneten Verzeihen, hebt sich dieser Vorhang und gibt eine gigantische Stahlwand frei. Dem Intrigen-Irrgarten sind sie vielleicht entronnen, aber Sonnenschein lächelt keiner über den zukünftigen Beziehungen dieser diversen Paare. So viel ist klar.
Sonst klärt Barbara Frey aber eher wenig. Der genialen musikalischen Komödie, die Lorenzo da Ponte und Mozart nach der Vorlage «La folle journée» von Beaumarchais anrichteten, misstraut sie ganz offensichtlich. Mozarts Musik aber ist derart theatralisch, derart nahe am turbulenten Geschehen und an den Gefühlsverwirrungen der Figuren, dass es schon ein starkes Gegengewicht braucht, will man die Geschichte anders erzählen. Es ist nicht so, dass tiefere Emotionen darin fehlen würden, aber sie sind eher die durchaus meisterhaft arrangierten Gewürze im Gefühlsleben der Protagonisten, mit denen Mozart sie von den Komödien-Schablonen abhebt.
Die Melancholie, die Barbara Frei in ihnen vor allem findet, ist natürlich vorhanden, aber sie ist zuwenig tragfähig, um ganz allein diese Inszenierung über die Zeit zu retten. So bleibt der Abend szenisch zäh und wird immer wieder langweilig, auch deswegen, weil Frey die Lust am Theaterspielen ständig aus den Augen verliert. Zu viel bleibt einfach statisch: Schon Figaro und Susanna in der ersten Szene trauen sich kaum, einander zu berühren. Das soll ein Liebespaar sein? Der quirlige Cherubino darf mal den Kopf auf eine weibliche Schulter legen, ein rascher Kuss, sonst ist Fehlanzeige mit seiner erotischer Anziehungskraft, der doch in diesem Stück augenblicklich jede Frau erliegt.
Auch dem Spiel mit den vertauschten Geschlechterrollen verweigert sich Frey, dabei hätte sie dazu sogar eine doppelte Vorlage bekommen: Die Barbarina singt mit Bruno de Sá nämlich ein männlicher Sopran – ja, das geht, mit entsprechender Begabung und viel Training kommen manche Männer auch deutlich höher als die Countertenor-Stimmlage. Aber szenisch wird das verschenkt: Während Cherubino ihre weibliche Figur in den Kostümen von Bettina Walter kaum kaschiert, hat man dem Sopranisten einen XL-BH umgehängt und lässt ihn – wie alle anderen – hauptsächlich herumstehen. Am besten passt die Melancholie natürlich zum Grafenpaar, und da gelingen der Inszenierung ein paar eindringliche Bilder und berührende Szenen. Das ist aber insgesamt zuwenig für einen über dreistündigen «Figaro»-Abend.
Umso mehr lohnte es sich, zuzuhören, gerade auch dem Basler Sinfonieorchester. Dass sie die Klangfarben klassischer Originalklang-Ästhetik beherrschen haben diese Musiker schon mehrfach bewiesen. Aber die stilistische Vertrautheit ist noch gewachsen, und klassische Bögen bei den Streichern, Naturhörner und -trompeten unterstreichen die musikalische Kompetenz. Man spielt praktisch auf Augenhöhe mit den Spezialisten-Ensembles, wenn denn ein Dirigent vorne steht, der auch weiss, wie er diese Klänge hervorbringen kann. Auf den britischen Barockspezialisten Christian Curnyn trifft das zweifellos zu. Erstaunlich dennoch, wie unglaublich unaufgeregt seine Gestik ist, und wie überaus theatralisch und lebendig die Basler Musiker dennoch spielen.
Das gilt auch für das Sänger-Ensemble: Etwas unterbelichtet blieb nur der Figaro von Antoin Herrera-Lopez Kessel, dem man auch einen Mangel an stimmlicher Geschmeidigkeit vorhalten muss. Ganz anders Thomas Lehmann, der den Conte mit grosser Beweglichkeit sang, und mit viriler Kraft, die er aber klug und dosiert einsetzte. Bei der Gräfin von Oksana Sekerina verloren sich die anfänglich irritierenden metallischen Härten und das unkontrollierte Vibrato im Verlauf der Premiere, und sie gestaltete berückend schöne Linien in ihrer zweiten grossen Arie oder auch im Duett mit der in jedem Moment und allen Lagen bezaubernden Susanna von Sarah Brady.
Reinmar Wagner
Vergnügliche Helena
Gut gezielte Pointen: Am Theater St. Gallen klopft der Regisseur Ansgar Weigner Offenbachs Antiken-Persiflage auf ihr Kabarett-Potenzial ab: Heraus gekommen ist eine sehr vergnügliche Helena.

Das Leichte ist oft etwas vom Schwierigsten. Das gilt gerade auch für die Operetten von Jacques Offenbach. Esprit ist gefragt, und zwar pausenlos, sowohl musikalisch wie szenisch. Die neue Produktion in St. Gallen schafft es meistens, die Ereignisdichte hoch zu halten, die Kaskade an witzigen szenischen Einfällen kaum zu unterbrechen und auch die Möglichkeiten an kabarettistischen Texten und Einlagen auszunutzen. Ein paar Längen gab es zwar, aber vor allem die lustvoll aktualisierten und auf heutige (Politiker-)Figuren umgemünzten Zwischentexte, die der Regisseur Ansgar Weigner und sein Dramaturg Marius Bolten erfanden, sorgen immer wieder für gut gezielte Pointen: «Make Sparta great again!» Und die Schauspielerin Pascale Pfeuti, die hier als «Bacchis» am Hof des Menelaos eingeführt wird, erhielt sogar einen eigenen kabarettistischen Exkurs zum Thema Geschlechterrollen, den sie virtuos bewältigte.
Die Persiflage antiker Helden- oder Göttergestalten, war seit dem riesigen Erfolg von «Orpheus in der Unterwelt» zum Erfolgsrezept von Offenbach geworden. Auch die 1864 uraufgeführte «Belle Hélène» konnte daran anknüpfen, zumal jeder im Paris des Second Empire Offenbach satirische Spitzen gegen die aktuelle politische uns gesellschaftliche Situation natürlich verstand und amüsiert goutierte. Interessanterweise waren es gerade die (oft adeligen) Spitzen der Gesellschaft, die sich von Offenbach unterhalten liessen und damit über sich selber lachten, während das Bürgertum über den Zerfall aller Moral schimpfte, zumal die Diva Hortense Schneider, auf die Offenbach seine Helene massschneiderte, eine ziemlich zwielichtige Darstellerin gewesen sein muss, deren sängerische offenbar eher am hinteren Ende ihrer Reize gestanden haben. So ist es natürlich beste Tradition, wenn man diese auf die damaligen Verhältnisse zugespitzten Pointen in heutigen Aufführungen den heutigen Verhältnissen anpasst. Zuviel soll nicht verraten werden aus dem Repertoire des Gag- und Pointen-Feuerwerks, das Regie und Dramaturgie abbrannten, aber es gibt einiges zu lachen über die Potentaten der aktuellen Weltordnung.
Für den stilgerechten musikalischen Esprit sorgte der französische Dirigent Nicolas André. Er animierte das Orchester fast überall zu recht spritzigem Spiel, hielt die Tempi hoch und die dynamischen Pegel in Sänger-gerechten Relationen. Die wussten es ihm zu danken, allen voran Marie-Claude Chappuis in der Titelrolle. Ihre bewegliche in allen Lagen ausdrucksvolle Stimme verband sich ausgezeichnet mit der lustvoll und durchaus handfest ausgespielten Rolle, die von zärtlich-kokett über raffiniert oder intrigant bis hin zur larmoyanter Besoffenheit viele dankbare schauspielerische Momente bietet. Gustavo Quaresma gab den Paris schauspielerisch sehr agil, sang auch mit einem schönen Timbre und immer höhensicherer Stimme. Allerdings klingt bei ihm fast alles immer genau gleich, selbst wenn er als verkleideter Botschafter der Venus als Angela Merkel-Parodie («Wir schaffen das!») auftritt.
Reinmar Wagner
Flirt mit dem Publikum
In Bern versucht Luger Engels die Ekstase von Szymanowskis «König Roger» ins Publikum zu tragen

Frauenstreik, Klima-Demo, «Fridays for Future» – Selten wurde soviel demonstriert auf Schweizer Strassen und Plätzen. Das Gemeinschaftsgefühl, das solche Menschenmassen unter den Teilnehmenden auslösen, versuchte der Regisseur Ludger Engels im Berner Theater ins Publikum zu tragen. Und es gibt in der Oper «König Roger», die an sich im Sizilien des 12. Jahrhunderts spielt, tatsächlich eine Szene, die dafür sehr gut geeignet ist: Der junge Hirte, ein dionysischer Verführer – vielleicht sogar der Gott des Weins, der Freude und der Ausgelassenheit selber – animiert die Volksmassen zu einem ekstatischen Tanz, dem sich trotz anfänglich heftigem Widerstand der kirchlichen Würdenträger kaum jemand entziehen kann.
Auch das Berner Publikum nicht: Aus dem Parkett stehen Statisten auf und halten Plakate hoch, aus den Logen hängen plötzlich Transparente, die Zuschauer in der ersten Reihe werden eingeladen, mit auf die Bühne zu gehen, was leicht ist, denn sie reicht bis ins Parkett, das Orchester spielt hinter der Szene. Schon sind wir mitten in einer Love-Parade, und Szymanowskis glühend intensive Musik tut das ihre, alle mitzureissen. König Roger selber verfolgt das Fest als Pilger verkleidet, und kann sich als Einziger dem Sog der dionysischen Orgie entziehen. Der aufgehenden Sonne singt er eine ekstatischen Begrüssung entgegen, eine Hymne an Apollo, den Gott des Lichts, der Vernunft – und der Musik. Sieger in diesem Wettstreit aber bleibt eindeutig Dionysos, der als Ketten-sprengender Verführer die Volksmassen hinter sich bringt.
Das grandiose Hauptwerk von Karol Szymanowski (1882-1937) ist ein Oeuvre, das man kaum Oper nennen mag, so ritual- und oratorienhaft ist seine soghafte, auf gigantische Klangflächen und ekstatische Chortableaus angelegte Musik. Und seine Chromatismen-selige Melodik mutet wie eine Steigerung von Wagners «Tristan» an. Hoch dramatisch ist diese Musik, aber nicht im Sinne der Unterstützung einer Opernhandlung, sondern in sich glühend, farbig, ekstatisch. Für den Dirigenten Matthew Toogood, seit dieser Saison interimistisch musikalischer Leiter am Berner Theater, war die Aufgabe nicht gerade einfach. Zwar führte er das Orchester sicher und klanglich mitreissend in der grossen, intensiven Klangfarbenpalette, die Szymanowski 1926 zwischen den Vorbildern von Wagner, Richard Strauss, Debussy oder Janácek anrichtete. Aber er hatte keinen Kontakt zu seinen Solisten, die hinter ihm nur auf die Monitore reagieren konnten. So mussten sie sich gegenseitig fast blind vertrauen, was an der Premiere aber erstaunlich gut klappte.
Die personifizierte Verführung wurde in Bern dem Tenor Andries Cloete anvertraut. Der Südafrikaner ist seit vielen Jahren im Ensemble und hat schon die unterschiedlichsten Rollen gesungen. Die charismatische Wärme seiner Stimme passt wunderbar zu diesem dionysischen Verführer, dem Szymanowski allerdings hin und wieder die ganze Wucht des grossen Orchesters entgegen setzt. Dafür fehlte dann doch das dramatische Quäntchen Metall in Cloetes Tenor. Über mehr stimmlich Reserven verfügt der polnische Bariton Mariusz Godlewski der in der Titelrolle mit vielseitigen sängerischen Mitteln mustergültig die Ambivalenz des emotional zerrissenen Königs zeigte.
Evgenia Grekova sang die Königin Roksana mit sauber sitzenden Spitzentönen, mit berückend zarten Piano-Linien, aber wenn nötig auch mit wuchtiger Strahlkraft. Und auch Nazariy Sadivskyy als Endrisi blieb seiner Partie nichts schuldig, wie auch der Berner Theaterchor, einstudiert von Zsolt Czetner, seine in diesem Oratorien-haften Stück sehr dankbaren Aufgaben zwar nicht immer ganz lupenrein und homogen, aber insgesamt sehr solid und rhythmisch sattelfest bewältigte.
Reinmar Wagner
Aber bitte mit Sahne!
Ein Musical mit Songs von Udo Jürgens kommt bei den Thunerseespielen auf die Bühne.

Es hat mit ABBA so wunderbar funktioniert, warum sollte es mit Udo Jürgens nicht auch gehen? «Mamma mia» war nicht nur als Film ein Hit, die Musical-Version zog quer um die Welt und machte letzten Sommer auch bei den Thunerseespielen Station – in einer eigens für die Seebühne adaptierten Inszenierung. Das Erfolgsrezept zu wiederholen, ist nun diesen Sommer ebenso fulminant geglückt. 2007 arrangierte Gabriel Barylli für Hamburg nach dem gleichen Strickmuster aus den bekanntesten Songs von Udo Jürgens eine Musical-Version mit einer völlig neu erfundenen Story: Lisa, erfolgreicher TV-Show-Stern mit Ehrgeiz und höchsten Ambitionen («Vielen Dank für die Blumen»), verpasst den Geburtstag ihrer Mutter, die sie ins Altersheim verfrachtet hat.
Dieser wird dafür umso aufmerksamer gratuliert vom Mit-Insassen Otto – schon haben wir die erste Romanze. Die alte, aber ziemlich vife Frau («Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an») mag Fantasy-Comics und träumt sich in diese Welten hinein, womit wir eine Ausrede haben, Spiderman & Co auf die Bühne zu holen. Und zum Geburtstag wünscht sie sich eine Schiffsreise in die USA, denn «Ich war noch niemals in New York». Zusammen büchsen die beiden Alten aus, Lisa und der Sohn des rüstigen Rentners, Axel, verfolgen sie aufs Schiff: Romanze Nummer zwei – allerdings mit einigen Startschwierigkeiten.
So eine Schiffsreise mit all den verschiedenen Passagieren und Besatzungsmitgliedern bietet natürlich an allen Ecken und Enden farbige Gelegenheiten, die Jürgens-Hits anzubringen, und in den schnell geschnittenen, farbig instrumentierten musikalischen Arrangements von Roy Moore und Michael Reed schnurrt Schlag auf Schlag ab, was der österreichische Sänger in seinem langen Künstlerleben an Hits produziert hat: «Alles im Griff auf dem sinkenden Schiff», das Buffet «aber bitte mit Sahne», das Blondinen-Ballett («17 Jahr, blondes Haar») oder «Griechischer Wein» – nun ja, einer der schwulen Kumpels hat halt Heimweh nach seiner griechischen Insel – «du musst verzeihn!».
Der Regisseur Werner Bauer hat das Stück auf die Thuner Seebühne gebracht und überzeugt mit viel Tempo, athletischer Action und sauber entwickelten Choreographien. Die Freiheitsstatue nimmt als zentrales Bühnenelement imaginäre Gestalt an, aber sie ist mehr als blosse Dekoration: im Comic-Stil zeigen Sprechblasen die Kommentare der Statue zur turbulenten Jagd auf die Rentner («Küss ihn endlich!»).
Musiziert wird sauber und solid under der Leitung von Iwan Wassilevski der nun schon seit 16 Jahren in Thun die musikalischen Fäden in der Hand hält und souverän und umsichtig durch die Partitur führt. Und auch die Sängerbesetzung kann sich absolut hören lassen. Am schönsten kriegt Patrick Imhof das Udo Jürgens-Timbre hin, Kerstin Ibald brilliert als Lisa, aber auch viele Nebenfiguren und das ganze Ensemble zeigen sich auf der Höhe ihrer Aufgaben.
Reinmar Wagner
Send in the Clowns
Die Bregenzer Festspiele zeigen in Verdis «Rigoletto» auf dem Bodensee eine spektakuläre Bühnenshow mit viel Zirkus und Bühnentechnik.

Wenn eine Show nicht richtig läuft, dann versuch’s mit Witz und Klamauk. Das sagt der Stephen Sondheim-Song «Send in the Clowns». Verdis Drama um den Hofnarren Rigoletto, seine Tochter Gilda und den Herzog von Mantua hat das zwar eher nicht nötig, die Vorlage von Victor Hugo ist dramaturgisch stringent, und Verdi steht in der Blüte seines künstlerischen Schaffens. Er reiht suggestive Arien aneinander – nicht nur den Hit «La Donna è mobile – und sorgt in der eindrücklichen Sturm-Szene musikalisch grandios für unheimliche Atmosphäre. Und auch der Regisseur dieses Spektakels, Philipp Stölzl, hat es sich nicht etwa einfach gemacht nach dieser Devise, im Gegenteil, seine Inszenierung für die Bregenzer Seebühne ist ein bis in die kleinsten Details ausgefeiltes Spektakel, in dem vordergründig erstens die Bühnentechnik und zweitens die Welt des Zirkus den Ton angeben, die aber weiter gedacht ist und es durchaus schafft, immer wieder zwischendurch stimmungsvolle Bilder zu kreieren für die emotionalen Nöte der drei Protagonisten.
Aber nur zwischendurch. So stechen zuerst einmal die quirligen Akrobatik-Truppen ins Auge, die sich schnell über der ganzen Bühne bis hinauf in die Höhen des Clown-Kopfs tummeln. Immer mal wieder landet einer von ihnen im Wasser des Bodensees, was sie kein bisschen von ihrem munteren Treiben abhält. Daneben verblassen szenisch die Hauptfiguren ein wenig, aber das lässt sich in solch gigantischen Produktionen jeweils nur schwer vermeiden. Stölzl versucht zwar, die Atmosphäre der intimeren Szenen vor allem mit Licht zu retten, aber hauptsächlich im Weg steht ihm dabei die von ihm selbst geschaffene Kunstfigur des gigantischen Clowns, die sich permanent in Bewegung befindet: Ihre Hand mit den einzeln beweglichen Fingern schafft spielend den Stinkefinger oder ballt sich zur Faust und scheint dabei Menschen zu zerdrücken, gibt sie in anderen Momenten wieder frei, ebenso wie der Kiefer, der sich aufklappen lässt und – ganz passend – zum Terrain des Frauen-verzehrenden Herzogs mutiert. Der gigantische Kopf selbst lässt sich mit Hilfe von Maschinen in alle Richtungen bewegen, die Augenlider klappern, die Augen selbst leuchten manchmal in unheimlichem Gelb. Dieser Clown ist weniger lustig als furchterregend, wenn er wie ein überdimensionaler Beobachter oder gar Strippenzieher das Treiben der kleinen Menschlein um ihn herum verfolgt und sich mit grausamer Freude zu amüsieren scheint über ihre emotionalen Nöte und Verzweiflungen in diesem für Gilda tödlich und für Rigoletto zerstörerisch endenden Drama.
Trotz so viel Technik-Brimborium kam die Musik doch zu ihrem Recht: Der Dirigent Enrique Mazzola drängte sich persönlich nicht in den Vordergrund, sondern stellte ganz in den Dienst von Verdis Partitur, sorgte für lebhaften Drive und eine sichere Basis für die Sänger und die Chöre. Gesungen wurde hervorragend, jedenfalls von der Premierenbesetzung, die bis in die kleineren Rollen wie Monterone (Kostas Smoriginas) oder Maddalena (Katrin Wundsam) sehr gut ausgewählt war. Vom Protagonisten-Trio vermochten alle drei restlos zu überzeugen, Stephen Costello als tenoral strahlender Herzog ebenso wie Vladimir Stoyanov in der Titelrolle mit enormer stimmlicher Vielseitigkeit und einer grossen Klangfarbenpalette. Zur Lichtgestalt wurde Mélissa Petit als Gilda, die nicht nur stimmlich in ihren zarten Koloraturen schwindel-erregende Höhen erklimmen musste, sondern auch in ihrer grossen Szene im Fesselballon hoch oben über der Bühne sang und dabei kein bisschen unsicher wirkte. Dank der Verstärkung brauchte niemand in irgendeiner Weise zu forcieren, so kamen auch die Stimmfarben und die sprachlichen Feinzeichnungen zu ihrem Recht. Ein bisschen Arbeit wartet noch auf die Tontechniker: Die Nuancierungen der Abmischungen wirkten noch nicht in jedem Moment restlos ausgefeilt. Bis zur letzten Vorstellung am 18. August wird sich das bestimmt eingependelt haben.
Reinmar Wagner
Unaufhaltsame Spirale ins Verderben
Es ist wieder Festspiel-Zeit in St. Gallen, zum 14. Mal wird vor der barocken Fassade der Kathedrale Oper gespielt. Eröffnet wurde das Festival mit der Premiere von Verdis dramatischer Oper «Il Trovatore».

Einfach perfekt, dieser Open-Air-Opern-Premierenabend, jedenfalls klimatisch: Rechtzeitig geht die Sonne hinter den Altstadthäusern unter, eine sanfte Bise kühlt angenehm, kein Wölkchen am Himmel und am Ende nach 23 Uhr ist es immer noch wunderschön warm. Bilderbuch-Verhältnisse für Verdis «Trovatore», aus der mittleren Schaffensperiode des Komponisten. Die Story zwar ist eine eher absurde romantische Schauergeschichte um verbrannte Kinder und unheimliche Zigeunerinnen, Brüder, die sich nicht erkennen und unheilvolle Liebesgeständnisse an die falsche Adresse, angesiedelt vom jungen Autor Antonio García Gutiérrez in Spaniens Mittelalter.
Verdi war fasziniert von diesem Stoff und trieb seinen Librettisten Salvatore Cammarano unermüdlich an, ihm doch bitte die Verse auch nur einzelner Arien zu schicken. Und er schrieb wie im Flow: eine Partitur, in der sich ein Hit an den anderen reiht, und die einen unglaublicher Sog entwickelt, eine Spirale ins Verderben, die sich unaufhaltsam und immer schneller dreht. Für jeden der vier Protagonisten gibt es grandiose emotionaler Wechselbäder, für die Verdi mit souveräner Hand aller Register italienischer Gesangskunst zieht.
Und die St. Galler Premierenbesetzung konnte sich wahrhaftig hören lassen. Allen voran die Sopranistin Hulkar Sabirova aus Usbekistan, die für die Leonora nicht nur Strahlkraft und vokale Geläufigkeit, sondern auch zarteste Piano-Regionen auskostete und jede ihrer Phrasen mit einem beneidenswerten Reichtum an gestalterischen Möglichkeiten ausstaffierte. Kaum minder nachhaltig, mit dunkel glühenden Tönen, überzeugte Okka von der Damerau in der Rolle der Zigeunerin Azucena, und der BriteTimothy Richards lieh dem Manrico seinen schön timbrierten, höhensicheren und geschmeidigen Tenor. Der mexikanische Bariton Alfred Daza sang den Conte di Luna zwar für meinen Geschmack mit etwas zu viel Glissando und Anschleifen, aber auch er überzeugte mit seiner intakten, strahlkräftigen und runden Stimme.
Am Pult des wach und agil aufspielenden St. Galler Sinfonieorchesters stand der junge deutsche Dirigent Michael Balke, seit 2017 Ständiger Gastdirigent in St. Gallen. Er wählte eher rasche, manchmal sogar sehr rasche Tempi, was den Sog dieses Stücks verstärkt und ihm sehr gut ansteht. An anderen Stellen gewährte er aber auch Raum für harmonische Entwicklungen und das Auskosten aparter Klangfarben-Mischungen, die man von Verdi so zu hören nicht unbedingt gewohnt ist. Die Chöre, wichtig in diesem Stück, bewiesen hohe Stimmkultur und wurden dynamisch sehr variantenreich geführt, waren manchmal auf der grossen Bühne etwas ungünstig verteilt, so dass die Koordination und Homogenität bisweilen etwas litten.
Bleibt die Inszenierung von Aron Stiehl: Sie arrangiert die Figuren auf der grossen Bühne, lässt die Duette oft weit auseinander stattfinden, und diese räumliche Trennung illustriert schon von Anfang an, dass die Liebesgeschichte zwischen Manrico und Leonora kein glückliches Ende finden wird. Ansonsten verklausuliert sie sich ein bisschen stark in Todes-Gestalten, die mit wenig szenischer Relevanz langsam über die riesige Bühne schreiten. Auch im Bühnenbild von Frank Philipp Schlössmann ist der Tod allgegenwärtig: Gigantisch triumphiert er als Totenschädel-Fratze mit Strahlenkranz. Das Bild passt: Es ist Krieg, überall Blut und Grabkreuze und auch das Liebespaar ist am Ende tot. Nur zweimal, wenn in der Oper die Kirche eine Rolle spielt, erhält die Kathedrale einen Gastauftritt.
Die Oper vor der Kathedrale steht im Zentrum der St. Galler Festspiele. Aber man hat bis zum 13. Juli noch mehr zu bieten. Dass in der Kathedrale getanzt wird, gehört ebenfalls seit vielen Jahren zum Programm. Dieses Jahr choreographiert Yuki Mori «Desiderium» zu Musik von Rachmaninow, Duruflé und Philip Glass. In zahlreichen Konzerten geht man den Spuren der historischen Troubadoure und Minnesänger nach. So gastiert etwa das Ensemble «Hirundo Maris» mit der Sängerin und Harfenistin Arianna Savall mit einer Tour d’Horizon durch die Lieder des Mittelalters, die «Accademia del Piacere» geht den Ursprüngen des Flamenco nach, oder der Bassist und Lautenist Joel Frederiksen präsentiert gleich zwei Programme zum Thema, ein Abend zu Oswald von Wolkenstein, und «Requiem for a pink Moon», in dem Melodien der Renaissance auf die Songs von Nick Drake treffen.
Reinmar Wagner
Niederlage gegen den Sog von Wagners Musik
Ludger Engels wollte in Bern mehr als bloss einen «Tristan» inszenieren. Sobald er sich gegen Wagner wandte, verlor seine Inszenierung aber deutlich.

Kann man «Tristan und Isolde» im nüchternen Ambiente einer schmucklosen Passagierfähre beginnen? Geht problemlos. Kann man die grosse Liebesszene des zweiten Aufzugs auf dem Sofa einer Zweizimmerwohnung spielen? Sicher, und Ludger Engels zeigt in seiner sorgfältig in vielen Details der Beziehungs- und Konfliktmuster ausgearbeiteten Inszenierung immer wieder subtil auf, mit welchen Emotionen, Absichten oder Hintergedanken die Personen aufeinander treffen. Muss man ein Stück wie «Tristan und Isolde» aufladen mit Richard Wagners Frauenbild und die Lieben seines Lebens Minna, Mathilde und Cosima mit inszenieren? Und ihn selbst als omnipräsenten Schöpfer und Antreiber des Geschehens? Muss man nicht, das Stück ist sicher stark genug in sich selbst. Aber es könnte interessant sein.
Ist es aber nicht in Bern. Engels gewinnt nichts aus seinem Kunstgriff: Die Damen schlurfen bedeutungsschwanger aber sinnlos über die Bühne und ein hippeliger «Künstler» greift den Figuren immer wieder unter die Arme, labert sogar ins Vorspiel hinein und scheint am Ende doch alle Wirkungsmacht verloren zu haben: Während Isoldes «Liebestod» verfolgt das gesamte Personal auf der Bühne seine eigene Agenda: die einen räumen auf, andere schmieren mit gelber Farbe herum, wieder andere spielen mit den Spielzeug-Bergwelten, in denen Tristans bretonische Burg angesiedelt wurde. Wenn man sich anlegt mit Wagners Musik, dann braucht man schon sehr starke Argumente, um gegen ihren Sog bestehen zu können. Die hatte Engels nicht, und so gewann Catherine Foster «mild und leise» und mühelos gegen die zunehmende Entropie auf der Bühne.
Aber die Haben-Seite in Engels Regie-Buchhaltung umfasst nicht nur eine genaue Personenführung, es gelangen ihm und dem Ausstattungsteam (Volker Thiele und Heide Kastler) auch poetisch-schöne Bilder. Vor allem die Glitzerkostüme, die das Liebespaar in der Liebesszene trägt, bilden zusammen mit den Spiegelwänden und Lichtspielereien eine anmutige Chiffre für die totale Entrücktheit von allem Realen, in die sich diese beiden Liebenden hinein träumen.
Und sie taten es auch sängerisch überaus beeindruckend: Catherine Foster, Die Bayreuther Brünnhilde der vergangenen Jahre, gestaltete ihre Isolde vielseitig, mit grosser Strahlkraft einerseits, aber auch mit verletzlichen und verschatteten Facetten. Und Daniel Frank – der schon als Lohengrin und Tannhäuser in Bern überzeugt hatte – konnte eine vergleichbare stimmliche Vielseitigkeit und gestalterische Souveränität ins Feld führen. Imposant die tiefen Stimmen, Robin Adams als Kurwenal und Kai Wegner als König Marke, während Claude Eichenberger ein ums andere Mal aufhorchen liess mit ihrer geschmeidigen, präsenten, eindrücklich gestalteten Brangäne.
Mit diesem «Tristan» verabschiedet sich Kevin John Edusei als Chefdirigent aus Bern. Ein Verlust, zweifellos, der deutsche Dirigent hat in den vergangenen Jahren in ganz unterschiedlichem Repertoire von Mozart bis Britten für Aufhorchen gesorgt. Auch in seinem «Tristan» hat Edusei viele Details der Instrumentierung sorgfältig heraus gearbeitet, oft harmonische und kontrapunktische Verläufe sehr suggestiv verdeutlicht, gerade im Streichersatz viel Aufmerksamkeit auf die Mittelstimmen verwendet. Die agogische Beweglichkeit ist hoch, oft verlieh Edusei Wagners Musik unüblich viel Zug, was ihr gut bekommt. Auch in der Dynamik erwies sich sein Wagner als vielseitig, hin und wieder allerdings unnötig laut, nicht wegen der Sänger, die wussten sich allesamt mühelos zu behaupten. Aber Wagners Klangbild verlangt nicht ständig nach dem vollen Spektrum der Instrumentalfarben, etwas Zurückhaltung kann oft reizvoller sein.
Reinmar Wagner
Befreiung aus dem Komödien-Klischee
Wie viel Spass kann doch eine gute Inszenierung machen! Jan Philip Gloger, deutscher Schauspiel-Regisseur mit mittlerweile zahlreichen Verdiensten in der Oper, hat mit Rossinis burlesker Komödie «Il Turco in Italia» am Opernhaus Zürich eindrücklich sein Können bewiesen.

Unglaublich, wie witzig, aber durchaus auch tiefgründig er die Figuren und Szenen in ein heutiges Ambiente zu transportieren vermochte, wie viel Tiefenschärfe er den typischen Komödien-Figuren verleihen konnte und wie detailliert und handwerklich brillant er mit einem schauspielerisch sehr begabten und begeisterungsfähigen Ensemble gearbeitet hat.
Wir sind in einem gesichtslosen Mietshaus in einer italienischen Stadt. Hier lebt Fiorilla ein eher fades Eheleben neben ihrem deutlich älteren Geronio. Nebenan ist ein junger, hübscher Türke eingezogen, der von seiner ehemaligen Verlobten, die er verstossen hat, verzweifelt gesucht wird. Und in der dritten Wohnung dieses Stockwerks wohnt der Medienkünstler und Dokumentarfilmer Prosdocimo in einer Schaffenskrise, aus der er sich mit Inspirationen aus dem realen Leben zu befreien sucht und deswegen die sich abzeichnenden Liebes-Verwirrungen in seinem Mietskasernen-Mikrokosmos nach Kräften anheizt und manipuliert.
Virtuos, mit nie erlahmender Liebe zum Detail erzählt Gloger vom Aufeinandertreffen verschiedener Denkweisen und Gebräuche, die sich bald als gar nicht mehr so fremd erweisen, schildert überaus glaubhaft die emotionalen Turbulenzen, in sich diese Figuren geradezu hineinschrauben und befreit sie damit auf überzeugende Weise vom Dasein als klischierte Komödien-Typen. Am Ende finden sich die «richtigen» Paare und man traut ihnen sogar zu, dass sie alle für sich wirklich etwas für’s Leben gelernt haben – ausser Prosdocimo. Der hat sich an eine fremdenfeindliche Rechtsaussen-Partei verkauft und nutzt sein Bildmaterial nun für üble Propaganda-Spots.
Hand in Hand mit dem souveränen, lustvollen, detailreichen Spiel geht das Singen in diesem überwiegend jungen Ensemble – vor allem in den Rezitativen und Ensembles. Wenn es dann um die artifiziellen und akrobatischen Koloratur-Fähigkeiten geht, die Rossinis Operndrive auch ausmachen, ergeben sich zwar einige Defizite, die aber weder derart gravierend sind, dass man nicht mehr gerne zuhören mag, noch die übrigen, vergleichsweise gut gemeisterten Gesangs-Klippen vergessen machen könnten. Am meisten von der bei Rossini oft geforderten leichten, aber überaus präzisen Beweglichkeit brachte Julie Fuchs als Fiorilla über die Rampe, auch der Tenor Edgardo Rocha in der «kleineren» «Türken-Rolle» als Narciso schmückte sein schönes Timbre mit eleganter Virtuosität, während bei den tieferen Männerstimmen – Nahuel di Pierro als Selim, Renato Girolami als Geronio und Pietro Spagnoli als Prosdocimo die Agilität manchmal ein wenig gehetzt wirkte und die Präzision immer mal wieder eher ungefähr ausfiel.
Am Pult des Zürcher Opernorchesters stand ein verbriefter Rossini-Spezialist: Enrique Mazzola der «Ritter ds Belcanto» von New York über Berlin, Paris bis Moskau. Bei soviel Expertise in diesem Repertoire war schon ein wenig erstaunlich zu hören, wie wacklig dieser Rossini aus dem Graben klang. Mazzolas Tempo-Dramaturgie wäre an sich überzeugend, aber wenn jedes zweite Bläsersolo auf unsicheren Füssen steht, wenn fast jeder Beginn eines neuen Tempos einen halben Takt braucht, bis alle Geigen gleich ticken, dann wären entweder gezielte Probenarbeit oder Retuschen bei der Wahl der Tempi angesagt. Natürlich ist Rossini nicht einfach zu spielen, aber ein so mittelmässiger Auftritt verträgt sich schlecht mit dem Anspruch der «Philharmonia Zürich», eines der führenden Opernorchesters Europas zu sein.
Reinmar Wagner
Ein Selbstmord als flammende Rache
Romantische Opern in der aktuellen Gegenwart anzusiedeln ist nicht immer ein einfaches Unterfangen. Dem russischen Regisseur Vasily Barkhatov ist es in Basel mit Puccinis japanischer Operntragödie «Madama Butterfly» gelungen.

Nein, in Japan sind wir nicht. Eher in Bali, oder in Thailand, oder auf den Philippinen, dort, wo heutzutage der Sex-Tourismus Einzug gehalten hat. Es gibt Folklore und Smartphones und grosse Flachbildschirme, wer Geld hat, kann seiner Ferien-Geliebten ein schickes Haus mit Pool und Fenstern aus Smart-Glass mieten, die ihre Lichtdurchlässigkeit mit elektrischer Spannung regulieren lassen. Eine hübsche Aktualisierung der transparenten Papierwände traditioneller japanischer Häuser, bloss hat die Technik offenbar ihre Tücken: Bei der Basler Premiere wollte die eine Scheibe partout nicht mehr transparent werden.
Es war auch sonst eine sehr Technologie-lastige Inszenierung, die der russische Regisseur Vasily Barkhatov, der in Basel schon Mussorgskys «Chowanschtschina» und Prokofjews «Der Spieler» auf intelligente Weise heutigen Lebensrealitäten angepasst hatte, für Puccinis koloniales Liebesdrama auf die Bühne brachte. Die Videos von Alexander Sivaev prägen die Szene – und nur selten erlebt man, dass das schicke Stilmittel, das im Theater heute so gerne eingesetzt wird, auch zu so sinnvollen Resultaten führt: Das Smartphone ist omnipräsent, sowohl Pinkerton, der vom Seemann zum Politiker mutiert ist, wie Cio-Cio-San filmen sich und ihr Gegenüber permanent. Und diese plumpen Alltags-Videos sind es denn auch, die das Mädchen immer wieder ansieht, die sie nach einer Schwangerschaft und drei Jahren des Wartens immer noch glauben lassen, dass der Traummann aus dem Westen wieder kommen und ihre Liebe aufleben lassen wird.
Dass diese Liebe Illusion ist, wissen wir – und weiss sie in dieser Inszenierung im Grunde auch. Barkhatov zeigt uns eine junge Frau, die sich wider besseres Wissen mit voller Kraft an diese eine Hoffnung klammert. Und die – nachdem ihr Kartenhaus zusammengebrochen ist – nicht als stilles Opfer verlöscht, sondern ihren Selbstmord in voller Berechnung als flammende Rache inszeniert – an ihm, und auch an ihrem Kind. Da gelingen der Inszenierung überaus starke emotionale Momente.
Stark ist auch Puccinis Musik: In dieser Partitur hat er – nach ein paar Retuschen in Folge der kühl aufgenommenen Uraufführung in der Mailänder Scala 1904 – zu vollendeter Meisterschaft gefunden und ist sich sicher in der Verwendung seiner Stilmittel, um die wechselnden Emotionen wirkungsvoll in die Höhe zu treiben. Sicher war sich darin auch der italienische Dirigent Antonello Allemandi: Vom ersten Takt an gab er Vollgas, stets bemüht, auch nicht das Geringste von Puccinis suggestiven Linien zu verschenken. Er schaffte es an der Spitze eines lustvoll und kompetent aufspielenden Basler Sinfonieorchesters auch immer, dabei nicht pauschal und platt zu werden, sondern im Gegenteil, mit feinen agogischen Nuancen die Spannung zu erhalten und auch klangfarblich differenzierte Schichtungen zu erzeugen.
>Für sein meist junges Sänger-Ensemble war er damit allerdings oft eine oder mehrere Stufen zu laut. Dennoch gelang Domen Krizaj ein befriedigender, phasenweise sogar berührender Sharpless und Kristina Stanek eine starke Suzuki. Beim Tenor, dem Georgier Otar Jorjikia, überwog manchmal ein wenig die Lust an tenoralen Kraftmeiereien in der – zugegeben strahlenden – Höhe, die ein wenig die gestalterische Ideenlosigkeit kaschierte. Kein bisschen aus der Ruhe bringen von Allemandis Furor liess sich die unangefochtene Königin dieser Oper: Die vielseitige amerikanische Sopranistin Talise Trevigne füllte die Partie der Cio-Cio-San mit packender Präsenz und aller denkbaren Intensität, gestaltete dabei differenziert und klug, setzte Klangfarben und Sprachnuancen gezielt ein und bewies damit, dass man Puccini sehr viel eindinglicher singen kann, wenn man nicht einfach immer nur das vollste Forte einsetzt, das die Stimme hergibt.
Reinmar Wagner
Ein Berner Koloratur-Wunder
Händels «Lotario» gehört nicht zum Kanon seiner bekannten Stücke. 2017 wagten die Händel-Festspiele Göttingen ein Revival und bewiesen eindrücklich die Qualität dieser Oper. Die Produktion schaffte es auch auf die CD (bei Accent), mit fast derselben Sängerbesetzung wie jetzt in Bern, aber unter Laurence Cummings mit dem Göttingen Festspielorchester. Bern ist Koproduzentin und zeigt eine etwas gekürzte Fassung mit dem eigenen Orchester.

Die jüngste stahl allen die Show: 2014 erst hat Marie Lys das Konservatorium abgeschlossen, als Adelaide, der heimlichen Hauptrolle von Händels Oper «Lotario», brillierte die Westschweizer Sopranistin mit atemberaubender Gesangskunst: Ein Koloratur-Wunder, lupenrein, glockenklar, gestochen scharf jeder Ton, eine brillante Höhe, ein solides Fundament und auch in mittleren Lagen genügend Substanz in der Stimme, um über ein barock besetztes Orchester hinweg zu klingen. Den anderen im Berner Sänger-Sextett blieb da nur das Staunen. Am nächsten kam ihr noch die Mezzosopranistin Ursula Hesse von den Steinen als Matilde, mit viel Erfahrung in ganz anderem Repertoire, aber offensichtlich noch immer mit der nötigen Beweglichkeit auch für schnelle Barock-Koloraturen, und dazu der Möglichkeit einer satten Tiefe und dem Bewusstsein für die Wichtigkeit sprachlicher Gestaltung.
Das Spiel mit der Artikulation war bei ihren Kollegen nicht ganz so ausgeprägt, und auch bei der stimmlichen Strahlkraft blieben Wünsche offen. Todd Boyce und Andries Cloete konnten damit zwar trumpfen, waren aber in den Koloraturen hörbar überfordert. Und der koreanische Countertenor Kangmin Justin Kim bewies zwar sehr viel lyrische Kantabilität in zwei wunderschön gestalteten langsamen Nummern, wenn es aber mehr zur Sache gehen sollte, war er auch etwas schwach auf der Brust. Bleibt die Titelrolle: Sophie Rennert sang sie sehr agil und virtuos, aber etwas brav in der musikalischen Ausgestaltung.
Das dürfte ein wenig auch an der sehr unaufgeregten Gangart des britischen Dirigenten Christian Curnyn gelegen haben, der zwar durchaus passende, bisweilen sehr schnelle Tempi anschlug, aber im Vergleich zu seinen Berufskollegen von der Barockfraktion die Dramatisierung des Ausdrucks nicht besonders forcierte. Das wiederum mag auch damit zu tun haben, dass im hochgefahrenen Graben nicht ein Barockorchester spielte, sondern Musiker des Berner Sinfonieorchesters, die ihre Sache sehr achtbar machten, wenn auch die Diskrepanz zu den Spezialisten nicht völlig übertüncht werden konnte. Insbesondere in den Basslinien schlichen sich immer wieder Präzisions- und Intonationstrübungen ein, und das fragile Zusammenspiel von Bogendruck und Streichgeschwindigkeit gelang den Geigen auch nicht immer gleich homogen.
Das ist Klagen auf hohem Niveau, zugegeben, man mochte dem Berner Ensemble und dem Händel-Klangbild von Curnyn gerne drei Stunden lang zuhören. Das Zusehen indes gestaltete sich weniger reizvoll. Carlos Wagner – der in der Schweiz etwa in St. Gallen schon gearbeitet hat – inszeniert das Mittelalter-Machtkarrussell als ein Potpurri aus Halbheiten in einem Raum, der am ehesten an einen gerade in Renovation befindlichen Renaissance-Palast erinnert. Das hat den Vorteil, dass man ausgiebig auf den Baugerüsten herumklettern kann – warum man das allerdings tut, bleibt ebenso unklar wie der grösste Teil des Gesten-Repertoires, den Wagner etabliert. Lotario zum Beispiel hat mal von einem Schmetterling zu singen und flattert danach bei jedem Auftritt wild mit den Händen. Sein Widersacher Berengar fällt einfach immer mal wieder um. Hin und wieder wird jemand an eine Wand gefesselt, die Kulissen verschieben sich, ohne dass sich dadurch andere Perspektiven ergeben würden. Plakativ werden die Beziehungsmuster durchgespielt, Zwischentöne gibt es keine, und das meiste bleibt nicht nur Behauptung, sondern auch statisches Verharren, bis der wiederholte A-Teil der Da Capo Arie vorbei ist. Diese typisch barocke Musik-Form ist natürlich ein Knackpunkt für die Regisseure, aber es gibt allein bei Händel genügend hervorragende Beispiele etwa von Laurent Pelly, Warlikowski, Caurier-Leiser, Katie Mitchell oder David Alden wie das mit Phantasie und Witz zu lösen ist.
Reinmar Wagner
Very much bäng
Ein Spektakel der besonderen Art war die Uraufführung von «Diodati. Unendlich» von Michael Wertmüller und Dea Loher am Theater Basel: Fünf Freunde… erschaffen ein Monster. Nur der Urknall war lauter.

Alles gross, alles extrem, alles Oper, alles bang bang: Da haben sich drei gefunden, die gerne aus dem Vollen schöpfen. Der aus dem Berner Oberland nach Berlin ausgewanderte Komponist Michael Wertmüller und die deutsche Dramatikerin Dea Loher kennen sich schon von anderen Opernprojekten. Im Auftrag des Theaters Basel haben sie sich erneut gefunden und erzählen im Rahmen eines legendären historischen Literaten-Freundeskreises eine skurril-absurde «Frankenstein»-Geschichte, schillernd zwischen romantischer Schauerlegende und Science-Fiction. Und Lydia Steier, die Regisseurin, die mit ihrer schräg-verspielten «Donnerstag»-Inszenierung schon die Stockhausen-Gralshüter zum Hyperventilieren brachte, setzt noch einen drauf und füllt die krude Story ihrerseits unermüdlich mit den Bild-Arsenalen aus dem Horror-Kino.
«Diodati» ist eine Villa im Genfer Dorf Cologny. Im Sommer 1816 trafen sich hier Lord Byron, seine Geliebte Claire, sein Leibarzt John Polidori, der Dichter Percy Shelley und seine spätere Frau Mary. Den Mont Blanc wollten sie sehen, die Schweizer Alpen bestaunen, aber im fernen Indonesien war ein Vulkan ausgebrochen, die Asche störte das Klima, das Wetter blieb kühl und regnerisch. So vertrieb sich das Quintett die Zeit mit dem Erzählen und Erfinden von romantischen Schauergeschichten, angefeuert durch intensiven Drogenkonsum und die von allen geteilte Faszination für okkulte Phänomene. Die Keimzelle zu Mary Shelleys «Frankenstein» wurde in diesen Tagen gelegt, und Polidori schrieb seine Kurzgeschichte «Der Vampyr», die noch vor dem «Frankenstein» riesigen Erfolg hatte und Heinrich Marschner zu seinem ersten Opern-Erfolg animierte.
Dieses literarische Gipfeltreffen hat schon Brian Aldiss zu seinem Roman «Frankenstein unbound» inspiriert oder Ken Russel zu seinem Film «Gothic». Dea Loher nun erfand dazu eine zweite, heutige Ebene, die zuerst bloss geographisch mit der Villa Diodati verbunden ist: Das Kernforschungszentrum CERN. Der Chor der Physiker begleitet die kreativen Seancen des literarischen Quintetts. Ähnlich wie die Kernforscher Materie zertrümmern, um immer kleinere Teilchen zu finden, atomisiert Dea Loher die Sprache, bis nur noch sinnentleerte Silben übrig bleiben. Vor allem aber spielt sie mit Kalauern und Sprachwitz: «Does it matter – Matter matters – and antimatter». Oder: «alle bang bang, very much bäng» oder «Löcher Röchel Rumms»: So gehen Urknall und schwarze Löcher bei Dea Loher.
Weniger witzig ist Wertmüllers Musik, sie ist im Gegenteil sehr ernst gemeint. Sie sucht zu Überzeugen und zu Vereinnahmen mit manchmal brachialen Mitteln wie Schlagzeug-Orgien, Opernzirkus-Akrobatik oder schlicht praller Lautstärke. Oder mit purer Schönheit: Gleich zwei grandiose Apotheosen zaubert Wertmüller am Ende aus dem Hut. Selten sind die Momente, in denen ein einsames Xylophon eine Szene begleitet oder der Sound der Avantgarde-Rockband «Steamboat Switzerland» allein die Führung übernimmt. Es ist sehr viel los bei Wertmüller, das Schlagwerk dominiert – nicht überraschend bei einem ausgebildeten Schlagzeuger. Die Rhythmen sind komplex, die Akkorde meistens dicht, alles laut, alles schnell. Mit Lust und Ausdauer zitiert sich Wertmüller durch die Musikgeschichte: Blechbläserchöre von Bruckner, Vokal-Quartett von Schubert, ein bisschen Mahler oder Carl Orff, viel Jazz und für die Sänger die irrwitzigsten Koloraturen à discretion – Grosse Opernszenen für fähige Stimmen – und die hatte diese Uraufführung: Nicht nötig, jemanden heraus zu heben: Holger Falk, Kristina Stanek, Rolf Romei, Sara Hershkowitz, Seth Carico brillierten allesamt, wie auch Samantha Gaul mit einem kurzen, aber ebenfalls höchst schwierigen, koloraturgespickten Auftritt. Die Musiker des Sinfonieorchesters Basel sind stark gefordert, aber Titus Engel koordiniert als ruhender Pol souverän dieses Orchesterbrimborium.
Und dann kam noch Lydia Steier. Brav nacherzählen ist ihre Sache nicht. So werden die CERN-Physiker zu Experimentatoren, welche die britischen Literaten im Labor zum Leben erwecken. Die Villa eine Versuchsanordnung, die Forscher in weissen Schutzanzügen. Aber wie Frankensteins Kreatur entwischt, so entfleuchen auch die Dichter, meucheln die Wissenschaftler – und wissen dann allerdings nicht so recht, was sie mit ihrer neuen Freiheit anfangen sollen. Das Laudanum – Opium in Alkohol gelöst – tut seine Wirkung, nicht nur die Drehbühne rotiert, die Trips werden schräger und skurriler, die Filmbilder ziehen mit, das Schlachten von Orangen geht einher mit dem Erschaffen von Leben, dem Gebären unter heftigen Geburtswehen, und was am Ende bleibt – Monster oder Ernüchterung, neues Leben oder Auflösung – das weiss keiner so richtig. Macht aber nichts, es war was los in auf der Basler Theaterbühne!
Reinmar Wagner
Jüdischer Witz aus dem KZ
Der Tod streikt, niemand kann mehr sterben. Das ist das Thema einer Kammeroper nicht nur mitten aus dem Zweiten Weltkrieg, sondern sogar aus der Not eines Konzentrationslagers. Viktor Ullmann schrieb «Der Kaiser von Atlantis» in Theresienstadt, das Theater Basel brachte sie zur Premiere.

Viktor Ullmann wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert. Im «Vorzeigeghetto» konnte sich ein beschränktes Kulturleben entfalten. In diesem Rahmen entstand das einstündige «Spiel in einem Akt» «Der Kaiser von Atlantis oder Die Tod-Verweigerung» auf ein Libretto von Peter Kien. Die Allegorie erzählt vom Kaiser, der abgeschottet in seinem Palast sitzt und nur mit einem Lautsprecher mit der Aussenwelt verbunden ist, erzählt vom Trommler, der auch die unsinnigsten kaiserlichen Entscheide den Massen verkauft, und vom Tod, der das sinnlose Morden satt hat, und sich eines Tages weigert, die Menschen sterben zu lassen. Jetzt helfen keine Befehle mehr, keine obrigkeitlichen Erlasse, die glorios verkünden, dass der Kaiser seinen Soldaten selbst die Unsterblichkeit geschenkt habe. Chaos und Rebellion greifen um sich, aber mitten auf dem Schlachtfeld blüht auch die Liebe, und erst, als der Kaiser sich selbst als erster zu opfern bereit ist, waltet der Tod wieder seines Amtes. Die Anspielungen auf die Nazi-Zeit sind unübersehbar, aber Ullmanns Stück greift weiter und ist zeitlos in seiner satirischen Kritik.
Zwar wurde das Stück in Theresienstadt noch geprobt, aber eine Aufführung kam nicht mehr zustande. Ullmann wurde wie viele seiner Künstlerkollegen nach Auschwitz deportiert und starb dort in den Gaskammern. Ein Freund rettete seine Partituren unter abenteuerlichsten Umständen, aber erst 1975 wurde das Stück in Amsterdam uraufgeführt. Wer denkt, in einer solchen Umgebung, mit dem Tod so nah vor Augen, sei nur eine anklagende, schwere, deprimierte Musik möglich, irrt gewaltig. Es ist erstaunlich, mit welch leichter Hand Ullmann hier zeitgenössische Modetänze und Jazzrhythmen, spätromantische Harmonik und die akzentreichen Klänge der Neoklassik zusammenbringt, nach Herzenslust zitiert und musikalisch kalauert, und all das überaus gekonnt in einige wenige zentrale Szenen giesst. Auch das oft mir viel Witz und Galgenhumor formulierte Libretto von Peter Kien hat seinen grossen Anteil an der beklemmenden Wirkung dieses Stücks.
Viel braucht die Bühnenbildnerin Lisa Dissler nicht in der neuen Basler Produktion: Ein paar sandfarbene Vorhänge, zwei Podeste, die sich quer über die grosse Treppe im Basler Theater-Foyer ziehen. Viel Platz also für die fünf Darsteller, der von der Regisseurin Katrin Hammerl auch entschieden ausgenutzt wird. Vor allem die Treppe wird zur allegorischen Bühne dieser Welt und zur Plattform für ein paar akrobatische Einlagen des Koreaners Hyunjai Marco Lee als wirbliger Harlekin. Aber dieses Stück braucht gar nicht viel szenisches Brimborium. Die Figuren sind Typen, ihre Aussagen sind Verlautbarungen, die sich eher an das Publikum als an das szenische Gegenüber richten.
Die Produktion kommt aus dem Basler Opernstudio «OperAvenir», aber neben jungen, offensichtlich szenisch wie sängerisch bereits sehr sattelfesten Sängern hat man mit dem Routinier Andrew Murphy bassbaritonale Verstärkung aus dem Opernensemble für die Rolle des Tods geholt. An der Seite spielt ein Kammerorchester der Musikhochschule unter der Leitung von Stephen Delaney mit viel Engagement, viel wacher Raffinesse und Aufmerksamkeit den ständig wechselnden musikalischen Klangsprachen gegenüber. Eine gleichermassen amüsante wie unter die Haut gehende Stunde Musiktheater!
Reinmar Wagner
Der Blick hinter die kalauernden Karikaturen
Es gibt wohl keine Oper, die so herrlich absurd ist wie Ligetis «Grand Macabre». Die Satire, die 1978 in Stockholm zum ersten Mal auf die Bühne kam, ist ein grosses Kasperle-Theater, eine lustvolle Absage an alles, was edel und hehr und heldenhaft ist, an alles Göttliche und an alles Ideologische sowieso. Tatjana Gürbaca inszenierte in Zürich.

Menschen sind kleine Würstchen und kämpfen mit den Tücken des Alltags, alles wird so richtig handfest und lustvoll durch den Kakao gezogen: Piet vom Fass, der versoffene erste Diener dieses Nekrotzars, wie der Tod hier heisst, der Astrologe Astradamors mit seiner mannstollen Gattin Mescalina, das Liebespaar, das den Weltuntergang in glückseliger Umarmung einfach verpennt, der durchgeknallte Fürst, die streitenden Minister, der paranoide Geheimdienstchef. Und auch dieser Nekrotzar entpuppt sich als ein übler Scharlatan: Viel Getöse und nichts dahinter.
Nicht nur die Geschichte, auch Ligetis grell-bunte Musik und die ständig kalauernde Sprache des Librettos spiegeln dieses Spiel mit dem Grotesken, Absurden, Überzeichneten. Im Zürcher Opernorchester war die Lust an diesen Tönen beinahe schon handfest zu spüren, und Tito Ceccherini, der für den Zürcher Chefdirigenten Fabio Luisi die Produktion übernommen hat, liess nichts aus, die Kontraste und Akzente so schrill und wild wie möglich zu machen. Und so sang und agierte auch das hervorragend aufgestellte Ensemble, angeführt vom britischen Bariton Leigh Melrose als sehr viriler und grossmäuliger Nekrotzar und dem unverwüstlichen Jens Larsen als Astrologe, unermüdlich und lustvoll im Comic-Stil.
Aber nicht nur das Laute, Grelle, Schrille ist das Markenzeichen dieser Partitur, es gibt auch wunderschön lyrische Töne in Ligetis collagenhaftem Sammelsurium musikalischer Formen, die etwa das junge Liebespaar oder auch Piet vom Fass – ausgezeichnet Alexander Kaimbacher – singen dürfen. Und im Orchester schichtet Ligeti auch ganz feine, hoch komplexe Klänge, die Ceccherini entschlossen bis an die Grenze der Hörbarkeit zurück nahm und damit enorme Spannung aufbaute und bewies: Ligetis Musik hat mehr zu bieten als den Soundtrack zu einem szenischen Gag-Feuerwerk auf der Bühne.
Und dann auch noch dies: Nicht nur Luisi war ausgefallen, es ist Grippe-Saison, auch Judith Schmid, die Sängerin der Mescalina lag im Bett. Ersatz fand man in der entlegensten Ecke der Welt, auf der Pazifik-Insel Gouadeloupe, wo Sarah Alexandra Hudarew am Strand lag, die schon in Luzern vorletzten Herbst diese Partie gesungen hatte. Sie flog um die halbe Erde und sang von der Seitenbühne aus, während die Regisseurin Tatjana Gürbaca die Figur spielte. Beides gelang hervorragend.
So grell und bunt wie die Oper war auch ihre Inszenierung im klaustrophobischen Bühnenbild von Henrik Ahr: Szenische Gags am Laufmeter, ein Feuerwerk von Einfällen, absurd und vulgär. Aber nicht nur: Auch Gürbaca liess neben dem Klamauk, den originellen Bilder-Chiffren und Blödel-Einfällen immer wieder Raum für Leere und Ungewissheit. Plötzlich tauchten da hinter den Karikaturen doch die Menschen auf, wehte ein Hauch von Echtheit und Mitgefühl durch das Geschehen, geisterten Fragen nach den letzten Dingen durch die Inszenierung. Der Tod hat zwar diesmal keinen Erfolg gehabt, aber irgendwann wird er doch kommen: Mit diesem «Memento Mori» schliesst Ligeti sein Stück und es erhält Raum auch in dieser gleichwohl sehr unterhaltsamen, witzigen Inszenierung.
Reinmar Wagner
Fantasy-Parodie und Zivilisationskritik
Horror-Gesichter, skurrile Luftgeister und Latex-Ladies: Ein russisches Märchen im Weltraum. Zwei nur ganz selten zu hörende russische Märchen-Opern aus dem Fin de Siècle kombiniert das Theater St. Gallen in seiner jüngsten Musiktheater-Produktion. Sowohl Rimsky-Korsakows «Kaschtschei» wie Strawinskys «Nachtigall» gelingen unter der Leitung des neuen Chefdirigenten Modestas Pitrenas sehr schlüssig und überzeugend.

Beides Märchen-Stoffe, beides einstündige Kurzopern, beide von russischen Komponisten – und damit hören die Gemeinsamkeiten auf. Obwohl Strawinsky ein Schüler von Rimsky-Korsakow war, und nur gerade zwölf Jahre die Uraufführungen der beiden Stücke trennen, liegen musikalische Welten dazwischen. Rimsky-Korsakow schreibt in spätromantischer Harmonik mit Einflüssen aus der russischen Volksmusik, dabei sehr farbenreich für die Orchesterbläser, eher lyrisch für die Singstimmen. Strawinsky dagegen ist in der Moderne angekommen: Zwar hier bei weitem nicht so rhythmusbetont wie im «Sacre de Printemps», mit dem er ein Jahr davor die Musikwelt zum Kochen brachte, sondern viel eher in wunderschön impressionistischer Klangmalerei und für die Nachtigall natürlich mit den zu erwartenden Zwitscher-Koloraturen, die nicht nur dem Sopran, sondern genauso den Flöten und anderen Holzbläsern einiges an technischen Fertigkeiten abverlangen.
Wenn an der Premiere in St. Gallen diese Nachtigall auch noch nicht hundertprozentig präzis und intonationsgenau gelang, so verdienen sowohl die iranische Sopranistin Sheida Damghani wie die Orchestermusiker höchsten Respekt für ihre rhythmisch vertrackten Akrobatik-Einlagen. Und die auf dem Papier riesig instrumentierte Partitur klingt unter Pitrenas Händen ausgesprochen subtil und fein ausgehorcht, was wiederum den Sängern entgegen kam, unter denen neben der trillernden Nachtigall vor allem der Fischer von Nik Kevin Koch mit seinem innigen Lied aufhorchen liess. Ähnlich die Situation im «Kaschtschei», wo die glühenden Farben und üppigen Harmonien manchen Dirigenten verführen mögen. Pitrenas dagegen dosierte klug, ohne die Musik in ihrer Wirkung auszubremsen, was wiederum den Sängern ermöglichte, mehr als nur ihre volle Forte-Stimme zu zeigen: Der Mezzosopranistin Ieva Prudnikovaite und der Sopranistin Tatjana Schneider gelang Variantenreichtum und sängerische Geschmeidigkeit besonders gut.
Dass die Musik dieser beiden Stücke völlig verschieden ist, hat den Regisseur Dirk Schmeding, der zum ersten Mal in der Schweiz arbeitet, dazu bewogen, ebenfalls zwei völlig verschiedene Inszenierungen zu entwerfen. Für «Kaschtschei», den bösen Zauberer, der seine Sterblichkeit in die Tränen seiner nicht minder grausamen Tochter eingeschlossen hat, die aber von der reinen Liebe eines jungen Paares schliesslich doch zu Tränen gerührt wird, hat sich Schmeding im Universum der Science-Fiction- und Fantasy-Filme bedient und zitiert sich mit seinem Video-Künstler Johannes Kulz quer durch «Space Odyssey», «Star Wars» und Konsorten: Der Zauberer, eine tattergreisige Variante des nadelgesichtigen Bösewichts aus den «Hellraiser»-Filmen, hat die Prinzessin (die Leia gleicht) auf einen einsamen Asteroiden vor dem glühenden Wabern eines galaktischen Sternhaufens entführt. Aber der Held – eine Kreuzung aus Flash Gordon und Luke Skywalker – naht mit Hilfe eines skurril-putzigen Luftgeistes, widersteht der Verführung der Zaubertochter und sorgt für das Happy End. Es gelingt Schmeding, seine Karikierungen und Slapstick-Einlagen nicht derart dominant werden zu lassen, dass sie die Ernsthaftigkeit der Musik zu sehr untergraben würden.
Zivilisationskritik dann für die «Nachtigall», für die Strawinsky auf das bekannte China-Märchen von Andersen zurück griff: Natur gibt es nur in Strawinskys zauberhaften Orchesterklängen, unser Fischer fischt auf der Müllhalde einer Grossstadt. Sonne und Meer gibt es nur auf den Werbe-Bildschirmen eines Technologiekonzerns. Dass man da den Gesang der Nachtigall hören könnte, ist zwar eher unwahrscheinlich, aber die ist eher als ein richtiger Vogel hier die utopische Idee eines besseren Lebens, verkörpert durch ein kleines Kind, während die Sopranistin die Partie von der Seitenempore aus singt. Der Kaiserhof ist dann konsequenterweise die Jahrespräsentation des angesprochenen Technologiekonzerns – man darf an die legendären Apple-Shows von Steve Jobs denken – die mechanische Nachtigall-Konkurrenz kommt als 3D-Brille vom japanischen Konkurrenten und – eine Verbindung gibt es doch zwischen den beiden Stücken – der Tod, der schliesslich durch den Gesang der Nachtigall ebenfalls derart verzaubert wird, dass er den Kaiser verschont, ist niemand anderes als die Kaschtschei-Tochter in ihrem Latex-Kostüm – konsequent, ihrem Vater hat sie schliesslich ja auch den Tod gebracht.
Reinmar Wagner
Schuberts «Fierabras» in Bern
Mario Venzago und Elmar Goerden versuchen in Bern eine Ehrenrettung des Opernkomponisten Franz Schubert. Sie gelingt mit dem letzten musikdramatischen Werk Schuberts, «Fierabras», allerdings nur teilweise.
Seit dem «Fierrabras», den Claudio Abbado und Ruth Berghaus1988 in Wien sensationell auf die Bühne brachten, ist Schuberts Ruf als Opernkomponist langsam, aber stetig am Steigen. Nicht unwesentlichen Anteil daran hatte auch das Opernhaus Zürich, wo «Des Teufels Lustschloss», dann «Alfonso und Estrella» unter Nikolaus Harnoncourt, und «Fierrabras» in einer klugen Inszenierung von Claus Guth aufhorchen und erahnen liess, welches Potential in den 18 teils Fragment gebliebenen Bühnenwerken Schuberts steckt, die alle bis 1823 entstanden. Was haben denn Verdi, Wagner, Strauss, sogar Mozart bis ins Alter von 26 Jahren an Opern fertiggebracht? Verdi den Erstling «Oberto», Wagner «Die Feen» und «Das Liebesverbot», Strauss nichts, nur Mozart war immerhin bei «Idomeneo» und «Entführung» angelangt. Natürlich ist das letztlich kein schlüssiges Argument, aber es kann die Zweifel an Schuberts Fähigkeit zur Operndramaturgie doch etwas relativieren.
Denn wirklich geschickt geht Schubert nie mit dem Anforderungen und Möglichkeiten der Gattung Oper um, das zeigte sich auch in Bern im «Fierabras» – man unterschlägt hier eines der beiden «r» mit dem Verweis auf die etymologische Herkunft des Namens: Fier-à-Bras, der «eiserne Arm». Die Ungeschicklichkeiten beginnen mit dem Libretto: ein ausuferndes mittelalterliches Ritter-Epos mit zwei Königen, zwei Helden und zwei Liebespaaren in den wichtigsten Rollen. Das Berner Programmheft braucht sechs Seiten, die Story aus dem Umfeld der Feldzüge Karls des Grossen gegen die Mauren nachzuerzählen. Die gesprochenen Texte hat man in Bern zusammengestrichen oder rezitativisch mit passender Musik unterlegt, was dem Stück nicht schlecht bekommt, aber oft die uninspirierten Längen nicht kaschieren kann, Längen, die erstaunlicherweise entstehen, ohne dass sich Schubert überhaupt trauen würde, die grosse emotionale Operngeste auszubreiten.
Vieles ist tatsächlich zu liedhaft gedacht. Dafür schreibt Schubert wunderschöne Chöre – in fast jeder Nummer, und machte damit sein letztes musikdramatisches Werk zu einer veritablen Chor-Oper. Und zu einer dankbaren Aufgabe auch für das Orchester, mit Horn-gesättigten Harmonielinien, mit viel Sinn für Klangfarben und einem starken Seitenblick auf Rossini.
Schuberts Anwalt am Dirigentenpult in Bern ist der Chefdirigent Mario Venzago. Wie wir es von ihm kennen, glüht und drängt alles: keine Möglichkeit zur Dramatisierung, die er nicht ausnutzen würde, keine Akzente, die nicht zugespitzt würden. Sein Schubert wirkt dadurch sehr lebendig und energiegeladen, allerdings durchaus auch burschikos und bisweilen etwas hemdsärmlig. Und das Orchester ist tendenziell eher laut, was für einen Teil der Berner Sängerbesetzung ein Problem darstellte: Intakte, fähige Stimmen allesamt, rollengerecht besetzt auch, die aber fast ständig darauf angewiesen waren, mit den obersten zehn Prozent ihrer dynamischen Möglichkeiten zu singen, womit sie sich zwar an der Premiere nicht die Stimmen ruinierten, aber doch auf viele sängerische Nuancierungen, die Schubert durchaus gut anstehen würden, verzichten mussten. Am meisten ins Gewicht fiel das bei Evgenia Grekova als Florinda und beim König Karl von Kai Wegner, weniger Reserven mobilisieren mussten Todd Boyce als Roland oder Elissa Huber als Emma, aber auch Andries Cloete in der Titelrolle zeigte ein beachtliches Rollenportrait – ebenso wie der Berner Theaterchor fast alle seiner dankbaren Aufgaben mit Bravour bewältigte.
Wie aber soll man diese Oper inszenieren? Elmar Goerden kam sicher nie in Versuchung, eine realistischer Ritter-Ballade zu zeigen, aber er fand offenbar im Stück auch nicht genügend Elemente für eine Aktualisierung. So entschloss er sich zu einer zeitlosen Abstrahierung mit aussagekräftigen Kostümen und geometrischen Mustern für die Bühne, auf der er hauptsächlich den Generationenkonflikt aus der Handlung destillierte und akzentuierte. Etwas schräg zu diesen Ideen standen die zahlreichen Gags und Karikierungen, mit denen Goerden die Handlung aufpeppte, es damit aber dennoch nicht wirklich schaffte, den statischen Eindruck seiner szenischen Anlage nachhaltig zu durchbrechen.
Reinmar Wagner
Uraufführung von Beat Furrers Oper «Violetter Schnee»
Das Ohr am Weltgetriebe: Die Berliner Staatsoper präsentierte die Uraufführung von Beat Furrers Oper «Violetter Schnee». In der Inszenierung von Claus Guth verschmilzt heutige Alltäglichkeit mit den existenziellen Dimensionen eines Bruegel-Gemäldes.

Beat Furrer pflegt sich zum Komponieren zurückzuziehen; das intensive Erlebnis der Natur ermögliche es ihm, sich «in anderen, grösseren Zusammenhängen wiederzufinden», wie er es formuliert. Seine neueste, nunmehr achte Oper, beauftragt von der Berliner Staatsoper, entstand in einem entlegenen Forsthaus im Gesäuse, einer urtümlichen Landschaft in den steirischen Alpen. Sieben Jahre hatte Furrer über dem Stoff gebrütet; das ursprüngliche Buch von Vladimir Sorokin wurde dabei vom Dramatiker Händl Klaus in ein Libretto verwandelt, das sich der Musik wie ein Massanzug anschmiegt, wobei buchstäblich jede Silbe auf der Waagschale liegt.
«Violetter Schnee» stellt die Frage nach der Endzeit der Menschheit im Angesicht unaufhörlichen Schneefalls – eine Dystopie, wie sie Pieter Bruegel schon 1565, während der sogenannten Kleinen Eiszeit, in seinem Tableau «Die Jäger im Schnee» gestaltet hat. Wie Furrers Oper und Bruegels Gemälde in der Berliner Aufführung miteinander in Beziehung treten und in einer zeitgemässen Vision verschmelzen, ist der Clou dieser insgesamt geradezu musterhaften Produktion in der Regie von Claus Guth. Das erlesene Sängerensemble mit der wunderbaren Martina Gedeck in der spät hinzuerfundenen Sprechrolle der Tanja bringt schier Unsing-/Unsagbares mit scheinbarer Leichtigkeit über die Rampe, und die vorzüglich studierte Staatskapelle unter Matthias Pintscher entfaltet die komplizierte, überaus feingliedrige Partitur mit ihren komplexen Abläufen und jähen Brüchen zu facettenreicher Wirkung. Nur dem Vocalconsort Berlin schien die Aufgabe zuweilen eine Schuhnummer zu gross, was aber dem Gesamteindruck letztlich keinen Abbruch tat.
Es ist eine gewaltige Geschichte, die Furrer mit ausschliesslich «menschlichen» Mitteln, mit Instrumenten und Stimmen, entwickelt – obwohl oder gerade weil er sie über weite Strecken in den dynamischen Bereichen von Piano und Pianissimo, oft an der Grenze der Hörbarkeit, erzählt. Es wirkt, als habe er seine Musik dem geheimen Lauf der Welt abgelauscht, diesem unfassbaren, undurchschaubaren Gewerke, in das wir Menschen hineingestellt und dem wir ausgeliefert sind, weil es uns überdauern wird, obwohl wir uns als dessen Beherrscher dünken. Im fortwährenden Modulieren der Harmonien, das den musikalischen Fluss vorantreibt, erleben wir ganz konkret den Zerfall des Vertrauten, und in den harten Schnitten, die dazwischen gesetzt sind, haben Schmerz und Erschrecken Raum. Momente zauberhafter Poesie – Flockentanzmusik, Vogelrufe, Phantasien von frühlingshaftem Tauen – beschwören ein letztes Mal die dem Untergang geweihte Schönheit und Geborgenheit, in der wir uns aufgehoben glaubten.
Die beiden jungen, mondänen Paare Silvia und Jan (Anna Prohaska und Gyula Orendt) sowie Natascha und Peter (Elsa Dreisig und Georg Nigl) entfernen sich, eingeschneit in ihrem Chalet, Schritt für Schritt von den Themen des praktischen Alltags. Nicht, wie sie heizen, und nicht, was sie essen könnten, nicht einmal, wer nun mit wem schläft, ist länger relevant an diesem Schicksalsort. Der düstere Melancholiker Jacques (Otto Katzameier) spürt von Anbeginn, dass es ans Eingemachte geht. Immer mächtiger bricht sich das Unbewusste in Träumen und Wahnvorstellungen Bahn. Da ist in Silvias Bratsche eine riesige Hornisse gewachsen. Da hat Jacques‘ Frau Tanja sich an seinem Geburtstag das Leben genommen.
Selbst das Problem des Eingeschlossenseins stellt sich ab einem gewissen Punkt nicht mehr. Denn durch ein kahles, schmutziges Stiegenhaus führt der Weg aufs flache Dach, wo immer wieder Figuren aus Bruegels Eiszeit durch den Schnee stapfen. Dort eröffnet sich eine geradezu gespenstische Freiheit. Es ist auch der Ort von Tanja. Barfuß, im weißen Gewand, scheint sie zwischen Hüben und Drüben zu vermitteln – eine Wiedergängerin, eine Art weiblicher Teiresias, dem Furrer die schönsten und aberwitzigsten Melodramen anvertraut hat.
Wenn der Schneefall zuletzt endlich aufhört, ist jede Individualität geschwunden. Da steht ein Grüppchen undefinierbarer, verlorener Gestalten unter hässlichen Strassenlaternen im rosavioletten Licht einer rätselhaften Sonne. Alles vorbei? Alles am Anfang? Eine Antwort kann es nicht geben. Nicht in Furrers oratorienhaftem, in quälenden Reibungen riesenhaft aufgeschichtetem Finale, und nicht in der Inszenierung. Im Szenenbild von Etienne Pluss, mit einer Handvoll Tänzern, gelingt es Claus Guth, den inneren Transformationsprozess der Figuren psychologisch schlüssig sichtbar zu machen, heutige Alltäglichkeit allmählich mit den existenziellen Dimensionen des Bruegel-Gemäldes zu verschmelzen, bis ein neues Tableau von grosser Nüchternheit an seine Stelle tritt. Ein Wurf – Berlins jungen Intendanten Matthias Schulz und sein Team kann man zu dieser mutigen Grosstat beglückwünschen!
Monika Mertl
«Don Giovanni» ohne Don Giovanni
Der Luzerner Intendant Benedikt von Peter variierte für Mozarts «Don Giovanni» ein bereits in Hannover ausprobiertes Konzept: Die Inszenierung ohne sichtbare Titelfigur und grösstenteils im Dunkeln, durch das sich die fahlen Lichter von Infrarot-Kameras tasten.

Ein «Don Giovanni» ohne Don Giovanni? Klingt absurd im ersten Moment. Rein musikalisch hat man zwar eine Handvoll guter Argumente für ein solches Konzept: Die Titelfigur erhält von Mozart nicht nur keine veritabel Arie, sondern insgesamt tatsächlich kaum eigene Musik. Oft spiegelt sich Don Giovanni bloss in den musikalischen Motiven der anderen Figuren. Aber szenisch? Die Verführungen von Donna Anna, Elvira, Zerlina und noch zwei drei anderen hübschen Frauen, der Mord am Komtur, die Prügelei mit Masetto, die Verwechslungs-Klamotte mit Leporello, die Party auf dem Schloss, das Fest am Ende mit dem «Steinernen Gast» – alles ohne Don Giovanni?
Es ist nicht so, dass Benedikt von Peter mit seinem Konzept neue Schlaglichter auf diese Figur werfen würde. Dafür bleibt sie tatsächlich zu unterbelichtet. Langweilig ist seine Inszenierung trotzdem nicht. Statt dem Protagonisten gewinnen die anderen an Profil, hauptsächlich Leporello, der hier mehr noch als sonst zum Sympathieträger wird. Und trotz fehlendem Giovanni und dunkler Bühne ist sehr viel los in dieser Inszenierung. Wir sehen die Entourage des Frauenhelden nur selten im Orange von Zerlina oder im Mondrian-Look von Elvira, sondern überwiegend im geisterhaft fahlen Grau der Infrarot-Kameras, die aber dafür sehr nah an den Gesichtern klebt, über die Körper der Sänger streift und uns den Blick hinter den dichten schwarzen Vorhang erlaubt, der als einziges Bühnen-Element gleichermassen Schranke und Leinwand bildet. Durch die Verdoppelung der Szenerie von realer Bühne und Video haben wir im Grunde fast mehr zu schauen, als in einer konventionellen Inszenierung.
Ganz verzichten kann auch diese Inszenierung nicht auf einen Don Giovanni. Natürlich hören wir ihn singen hinter dem schwarzen Vorhang, von Mozarts musikalischer Substanz wurde nur wenig gestrichen. Zu sehen allerdings bekommen wir nur seine Hände: Wie sie Mädchenkörper streicheln, wie sie den Komtur erschiessen, wie sie Leporello herumschikanieren. Dass ein solches Konzept mit derart viel Wirkungsmacht funktionieren kann, ist ein hartes Stück Arbeit. Beeindruckend ist die hohe Präzision, mit der die Gesten und Positionen bis in die feinen Details ausgearbeitet und verinnerlicht wurden. Vor allem dadurch gewinnt die Produktion ihre Spannung und Intensität und macht das auf dem Papier eher elitäre Projekt tauglich für ein aufgeschlossenes Opernpublikum. In Luzern jedenfalls erntete die Premiere eine standing ovation – völlig verdient.
Denn auch musikalisch war das Niveau erfreulich hoch in dieser vom Luzerner Musikdirektor Clemens Heil geleiteten Premiere. Sein Mozart offenbarte sehr viel musikalische Dramatik und die bei den Originalklang-Ensembles abgehörte geschärften Akzentuierungen, dazu auch immer wieder sorgfältiges Interesse an den Klangschichtungen und den Mittelstimmen. Sängerisch gab es neben saisonbedingten Erkältungs-Beeinträchtigungen für das Luzerner Ensemble die eine oder andere Klippe in Mozarts Partitur. Am souveränsten und überzeugendsten sangen Vuyani Mlinde als Leporello, Diana Schnürpel als Zerlina und Flruin Caduff als Masetto, während die Donna Anna von Rebecca Krynski Cox sukzessive abbaute, die Elvira von Solenn‘ Lavanant Linke neben einigen wirklich mitreissend gelungenen Momenten auch krankheitsbedingte Abstriche zulassen musste und sich kurz vor Schluss auswechseln liess. Jason Cox als Don Giovanni haben wir zwar nicht gesehen, aber durchaus sehr gut gehört. Fast zu gut manchmal: Die Neigung zum Übertreiben machte manche seiner Linien etwas poltrig und karikierte da und dort die Geschmeidigkeit seiner Stimme.
Reinmar Wagner
Drag-Queen ohne Perücke
Wer immer noch dazu tendiert, Musicals geringer zu schätzen als die grosse Oper, kann sich in Basel eines Besseren belehren lassen. «La Cage aux Folles», das Broadway-Musical um eine alternde Drag-Queen, das Jerry Herman 1983 nach einer erfolgreichen französischen Theaterproduktion und einem noch viel erfolgreicheren Film mit Michel Serrault und Ugo Tognazzi komponierte, überzeugt mit Farbe, Witz und Glamour, noch viel mehr aber mit höchstem schauspielerischem und musikalischem Niveau.

Hauptsächlich verantwortlich dafür ist Stefan Kurt, einer der erfolgreichsten Schweizer Schauspieler auf Bühne und Leinwand, der mit vibrierender Intensität und elektrisierender Bühnenpräsenz Zaza spielt, den in die Jahre gekommenen Revue-Star, der mir körperlichen und seelischen Altersgebrechen ringt und um die Würde seiner Existenz und seiner Beziehung zum Patron und Partner Georges kämpft.
Neben ihm verblassen die anderen ein wenig, selbst ein kaum weniger renommierter Bühnen- und TV-Star wie Roland Koch kann nur wenige eigene Akzente setzen und fungiert wie die anderen in den gespielten Passagen hauptsächlich zur Stichwort-liefernden Basis für Zazas Höhenflüge. Der Kontrast dazu sind die Revue-Nummern, die von Esther Bialas und Sarah-Katharina Karl mit der passenden Freude an Farben, Kostümen, Glitter, Glanz und Gloria angereichert werden.
Bemerkenswert, wie liebevoll, warmherzig und sensibel der Regisseur Martin G. Berger, der an vielen deutschen Bühnen schon sehr erfolgreich Musicals inszenierte, diese Travestie-Show auf die Bühne brachte. Das Schrille und Klamaukige wird nicht negiert oder ausgespart, das Spiel mit den Schwulen-Klischees wird ungeniert ausgekostet, aber es ist quasi Staffage oder Entourage für den Blick auf die Menschen hinter diesen lustvoll farbigen Kunst-Existenzen. Das trifft den Nerv unserer Zeit, in der doch weitherum Trans- und Homosexualität als gesellschaftliche Realität wahrgenommen und akzeptiert wird, und in der prüde Bürgerlichkeit in Gestalt des konservativen Politikers schon von sich aus automatisch zur Lachnummer wird.
Auch das Stück selbst kann seine Substanz beweisen. Ein wenig schematisch aufgebaut sind sie zwar durchaus, die Songs von Jerry Herman: zart-fragile Linien am Anfang, zu denen immer mehr an Begleitung, Dichte und instrumentalen Farben hinzukommen. Aber Ohrwurm-Potenzial entwickelt der amerikanische Routinier («Hello Dolly», «Milk and Honey», «Mame») stets aufs Neue, und wenn derart souverän, sauber und subtil musiziert wird wie von der Band unter der Leitung vom neuen Basler Studienleiter Thomas Wise, wenn so gekonnt mit dem musikalischen Material gespielt wird, wie es sein Bläser-gesättigtes, speziell für Basel neu geschriebenes Arrangement vormacht, und wenn zudem von Stimmen, die gerade im Fall von Kurt und Koch nicht besonders auf Musical trainiert worden sind, doch so sauber, intonationssicher und mitreissend gesungen wird, dann kann Hermans mit allen Wassern Musical-erfahrener Wirkungsmacht gewaschene Musik in bestem Licht erstrahlen.
Reinmar Wagner
Reise ins Land der Karpfenköpfe
Die Wiener Staatsoper stemmt wieder einmal eine Uraufführung: «Die Weiden» von Johannes Maria Staud auf ein Libretto von Durs Grünbein ist eine Reise in ein Europa der Rechtspopulisten von heute.

Ein Uraufführungshaus ist die Wiener Staatsoper nicht gerade, schon acht Jahre liegt die letzte zum Abschluss der Ära Ioan Holender zurück. Jetzt hat auch sein Nachfolger Dominique Meyer, sozusagen auf den letzten Metern seiner Intendanz, nachgezogen und an den österreichischen Komponisten Johannes Maria Staud und den deutschen Lyriker Durs Grünbein den Auftrag für «Die Weiden» abgeschlossen. Eine Opernnovität, die sich ziemlich direkt dem aufkommenden Rechtspopulismus in Mitteleuropa und ihrer Heimatrhetorik entgegen stellt.
Das Stück aus sechs Bildern (plus vier Passagen und einem Zwischenspiel) beginnt in New York bei Leas Eltern. Die junge Philosophin und Tochter jüdischer Eltern bricht von hier zu einer Reise in die Heimat ihrer Vorfahren auf und unternimmt mit ihrem Liebhaber Peter eine Bootsfahrt in dessen österreichischer Heimat. Sie treffen bei ihrer Fahrt dorthin ein Hochzeitspaar – auch Peters Schulfreund Edgar (Thomas Ebenstein) ist «von hier» und Kitty (Andrea Carroll) «dazugekommen» und erst durch die Heirat «legal» – und auf den Komponisten Krachmayer (Udo Samel), dessen Vorliebe für Wagner wohl nicht nur dessen Opern, sondern ebenso dessen notorischem Antisemitismus gilt.
In der Eingangsszene in New York haben die jüdischen Eltern ihre Tochter Lea vor der Reise in das Land der «Karpfenmenschen» gewarnt. Die Karpfen stehen für Mitläufer, Täter, Wegseher. Genau diese Karpfenköpfe sieht Lea irgendwann auf den Schultern von Peters Eltern und «seinen» Leuten. Bei seiner Familie und vor allem bei jener Versammlung auf dem idyllischen Marktplatz eines Postkartendorfes, auf dem ein Bierzeltdemagoge eine kernige Rede hält, wie sie heute nicht nur in dieser Gegend gehalten werden.
Der metaphorischen Fluss Dorma klingt nicht zufällig nach Donau. Gebrochen wird die Geschichte noch durch eine Fernsehreporterin (Sylvie Rohrer) und ihr Team, die von der grossen Überschwemmung des Flusses berichten, die die realen und metaphorischen Dämme brechen lässt. Und von den zwei Paaren, die vermisst werden. Das Verhältnis aus realer Geschichte und tieferer Bedeutung gerät vor allem in Grünbeins Libretto gegen Ende etwas aus der Balance. Grünbein ist halt in erster Linie ein Dichter und Poet und erst danach Librettist. Am Ende gehen nicht nur Edgar und Kitty unter, sondern auch Peter wird von einer Flut mitgerissen. Aber nicht von strömendem Wasser, sondern von entschlossen marschierenden, schwarz gekleideten Männern… Lea aber begegnet mit dem Zug der Deportierten der Vergangenheit, ihren Vorfahren und damit sich selbst.
In der Inszenierung von Andrea Moses, Jan Pappelbaum (Bühne), Kathrin Platz (Kostüme) und Arian Andiel (Video) werden Flusslandschaften hinter den beiden Insel-Drehscheiben projiziert. Ein rotes Kanu schwebt für die Flussfahrt über die Bühne. Die Ästhetik ist insgesamt deutlich, aber nicht platt. Staud passt seine musikalische Sprache an das gesprochene Wort an. In den instrumentalen Zwischenspielen oder beim vollen Orchestereinsatz gelingt ihm allemal eine atmosphärische oder gar unheildräuende Dichte. Staud zitiert aber auch ganz direkt Wagners «Meistersinger»- und «Tristan»-Musik. Das ordnet er ebenso unverblümt denen zu, gegen deren dumpfen Heimat-Populismus sich das ganze Unternehmen richtet.
Am Pult des Orchesters der Wiener Staatsoper spielt Ingo Metzmacher seine grosse Affinität zur Moderne voll aus. Exzellent gelingt die Anreicherung des Orchesterklangs mit Atem- und Hauchgeräuschen, verfremdetem Plätschern und Zwitschern sowie mit elektronischen Klangzugaben, die vom SWR Experimentalstudio beigesteuert werden. Das funktioniert durchweg fabelhaft und sorgt für einen Klang, der den Raum füllt. Rachel Frenkel (deren rotes Kostüm, an das Mädchen im roten Kleid in «Schindlers Liste» erinnert) ist eine, wenn auch eindimensionale, so doch intensive Lea. Herausragend in seiner vitalen Präsenz der Peter von Tomasz Konieczny. Die Wiener Staatsoper glänzt das erste Mal nach Aribert Reimanns «Medea» wieder mit einem packenden Stück neuen Musiktheaters, das nicht kalt lässt.
Joachim Lange
Die erste grosse Liebe
Regula Mühlemann brilliert in Luzern in Charles Gounods Shakespeare-Vertonung «Roméo et Juliette». An der Seite des mexikanischen Tenors Diego Silva und angeführt von einer aufmerksamen Regie singt und spielt sie bezaubernd eine junge Frau, deren erste grosse Liebe nur im Tod Erfüllung finden kann.

Es ist ein Laufsteg für Regula Mühlemann, diese Luzerner Produktion von Gounods Shakespeare-Oper «Roméo et Juliette». Umso mehr, als in unserer Vorstellung der mexikanische Tenor Diego Silva als erkältet angesagt war, und damit die Bühne noch mehr der Luzerner Sopranistin gehörte. Zwar erwies sich die Indisponiertheit des Tenors je länger je mehr als vernachlässigbares Handicap – bloss in den Höhen zeigten sich einige verengte Linien – und gegen Ende traute sich der Mexikaner auch ganz schön was zu, wenn es darum ging, die Spitzentöne noch etwas heller und kräftiger strahlen zu lassen.
Dennoch wurde er deutlich in den Schatten gestellt von seiner Bühnenpartnerin: ein Sopran mit blendender Leuchtkraft und ungetrübter Klarheit, geführt mit souveräner Intonations- und Höhensicherheit, der aber auch in der Mittellage über Kern und Charisma verfügt. Ideale Voraussetzungen also für die emotionalen Wechselbäder, die Gounod diesem Liebespaar zumutet. Zudem sehen die beiden jungen Sänger auch blendend aus und entwickeln mit grosser schauspielerischer Beweglichkeit eine starke Bühnenpräsenz, so dass man ihnen die erste grosse Liebe eines Teenager-Paars vorbehaltlos abnimmt.
Der Regisseur Vincent Hugues, gross geworden im Umfeld von Patrice Chéreau, führt die beiden jungen Liebenden sehr aufmerksam, schildert Juliette zu Beginn als unnützes Girlie mit Flausen im Kopf, Roméo als ebenso übermütigen Street Gang-Anführer. Die Kampfszenen hat er mit viel Action choreographiert, etwas weniger bezwingend wirkt sein Liebespaar, wenn sich Tod, Sterben und Selbstmord in die grosse Liebe mischen.
Für Vincent Hugues besteht der Gegensatz, an dem diese Liebe scheitern muss nicht so sehr in familiären Rivalitäten, sondern ist vor allem in einem Konflikt zwischen den Generationen: Eine überalterte Gesellschaft diktiert der Jugend ihre traditionellen, verkrusteten und kein bisschen reflektierten Werte. Das gelingt dem französischen Regisseur durchaus überzeugend; ebenso wie das sehr gut dazu passende, tonnenschwere Marmor-Ambiente dieses Skulptur-gesäumten Ahnenkults das Gewicht der Generationen sehr treffend illustriert (Bühne: Aurélie Maestre). Allerdings erkauft man sich diese Wirkung mit etlichen zeitraubenden Umbaupausen.
Gounods Oper beschäftigt zehn Sänger, eher lieber zugehört haben wir neben dem Protagonistenpaar dem Priester von Vuyani Mlinde und den beiden weiblichen Nebenrollen Abigail Levis und Sarah Alexandra Hudarew. Sehr gerne zugehört haben wir vor allem aber auch Clemens Heil und seinem sowohl klangfarblich wie dynamisch sehr wachen Dirigat, das die Musiker des Luzerner Sinfonieorchesters auch anspornte zu hoher Präzision und Aufmerksamkeit, insbesondere zu einem sehr schönen und homogenen Streichersound.
Reinmar Wagner
Party bei Andy Warhol
Sein «Don Giovanni» letzte Saison in Bern war ein Wurf, mit seiner Sicht auf Puccinis «Bohème» konnte der südafrikanische Regisseur Matthew Wild nun aber weniger überzeugen.

Marcello, der Maler aus der «Bohème»-Kommune, hat es geschafft: Er ist ein berühmter Künstler geworden. Gerade bereitet man eine grosse Retrospektive vor. Marcello sitzt mittlerweile im Rollstuhl, wird von seiner Frau herein geschoben: Es ist Musetta, der flatterhafte Schmetterling von einst, die es noch immer an seiner Seite aushält. Nicht nur körperlich geht es bergab mit Marcello, auch das Erinnern fällt schwer: Irrlichternd tauchen die Szenen aus der hippen 60er-Jahre-Kommune von einst vor seinem inneren Auge auf: die Freundschaften, die Armut, die Liebesgeschichte zwischen Mimì und Rodolfo, die Parties – nicht im Quartier latin, sondern in einer schrillen Avantgarde-Factory von Andy Warhol – Mimìs Tod, die nun natürlich nicht mehr an Schwindsucht stirbt, sondern an Krebs.
In dieser doppelten zeitlichen Überlappung erzählt der südafrikanische Regisseur Matthew Wild Puccinis Künstlerdrama «La Bohème». Et tut das sehr unterhaltsam, vor allem im zweiten Bild, wenn er alle Register zieht, um eine schrillbunte Künstler-Party abschnurren zu lassen. Auf das schauspielerisch bewegliche Berner Ensemble – und auch den Chor – konnte er dabei zählen. Allerdings bleibt uns Matthew Wild die Begründung schuldig, warum es reizvoll sein soll, diese Geschichte, die nun eigentlich in sich selber sehr unproblematisch abläuft, aus der Erinnerungsperspektive einer Nebenrolle zu erzählen, und die zeitlichen Ebenen immer wieder und nicht ganz nachvollziehbar zu vermischen. Und noch schwieriger wird es, aus einer solchen Erzählstruktur heraus zu kommen, und die Oper da, wo sie nun bei Puccini halt gerade besonders auf die Tränendrüsen zielt, zu ihrem Recht kommen zu lassen. Dass wir am Ende für Mimì und Rodolfo gar nicht so viel Mitleid aufbringen, sollte vielleicht dann doch nicht ganz das Ziel einer Opern-Inszenierung sein.
An der Musik kann es nicht gelegen haben. Der deutsche Dirigent Ivo Hentschel, der seine ersten Premiere in Bern leitete, sparte nicht mit Pathos und liess das Orchester fast immer Puccinis süffige Kantilenen mit voller Emphase ausmusizieren. Es gab hin und wieder Momente einer feineren dynamischen Gangart, aber meistens klang es vor allem laut aus dem Graben. Puccini verdoppelt bekanntlich die Gesangslinien im Orchester, was für die Sänger, die auf einem derart ungedämpften Fundament singen, nur eines heisst: Gib was du kannst, sonst gehst du unter.
Wenn man eine Besetzung hätte, die sich unter solchen Bedingungen wohl fühlt und die stimmlich über diesen Orchesterwogen nur noch heller strahlen kann, dann hat ein solcher Puccini-Rausch durchaus seinen Reiz. Hatte man aber nicht in Bern: Der Mimì von Evgenia Grekova wie dem Rodolfo vom dänischen Tenor Peter Lodahl fehlte das Metall in der Stimme, um hier zu bestehen. Beide verfügen an sich über ein rundes Timbre und vokale Wärme, im Fortissimo aber klingen sie schnell angestrengt und nur noch sehr eindimensional. Selbst die Musetta von Orsola Nyakas, die mit ihrer klaren, beweglichen, höhensicheren Stimme kürzlich schon als Despina brillierte, musste unschöne Schärfen in Kauf nehmen. Am besten über die Runden kam noch Todd Boyce als Marcello – und der Chor, der sich bezüglich Klangvolumen nun wirklich nichts vormachen lassen musste. Eine feinere Puccini-Klinge vom Dirigentenpult her aber würde dem ganzen Ensemble deutlich mehr Luft zum Atmen lassen und der dieser populären Oper sicher nicht schlecht anstehen.
Reinmar Wagner
Mozarts «Così fan tutte» in Zürich
Erschwerte Umstände können glänzende Resultate nach sich ziehen: Die Fern-Inszenierung von Mozarts «Così fan tutte» des russischen Regisseurs Kirill Serebrennikov, der in Moskau in Hausarrest sitzt, wurde in Zürich zum triumphalen Erfolg einer sehr eigenwilligen Sicht auf Mozarts Beziehungsverwirrungs-Komödie.

«Free Kirill» stand unübersehbar gross auf den T-Shirts, die das ganze Ensemble zum Schlussapplaus trug. Seit mehr als einem Jahr hält das russische Regime den Regisseur in seinem Haus in Moskau gefangen – ohne Prozess, und mit sehr fadenscheinigen Begründungen. Das Zürcher Opernhaus hielt aber dennoch an ihm für seine Produktion von Mozarts Oper fest. Am Schreibtisch entstand Serebrennikovs Konzept, in Zürich leitete der Freund und Kollege Evgeny Kulagin die Detailarbeit, die per Video und Mail über den Anwalt des Regisseurs abgeglichen und ausgefeilt wurde.
Trotz dieser schwierigen Arbeitsbedingungen überzeugt die Inszenierung bis in alle Details. Sie ist gleichermassen klug wie unterhaltsam, wird dem Stück gerecht und führt gleichzeitig darüber hinaus in die Realität von heute. Serebrennikov hat sich dabei jeden Kommentars auf seine ungemütliche Situation enthalten. Seine «Così» ist in keiner Weise eine politische Inszenierung. Sondern eine, die das meisterhafte Libretto von Lorenzo da Ponte, das auf den Mustern der Commedia dell’arte beruht, und die Musik Mozarts, die weit über die schematischen Rollenmuster hinaus in existenzielle emotionale Dimensionen ausgreift, ernst nimmt und fragt, was eine solche Konstellation in der Gefühlswelt von vier jungen Leuten von heute auslösen könnte.
Zur Erinnerung: Ein lebenserfahrener Philosoph schliesst mit zwei verliebten jungen Offizieren eine Wette ab: Wenn sie seinen Anweisungen folgten, beweise er ihnen, dass die Treue ihrer Bräute wandelbar sei. Er schickt sie in den Krieg, um sie kurz darauf als exotisch verkleidete orientalische Adlige wieder auftauchen zu lassen und den beiden Geliebten übers Kreuz den Hof zu machen. Man weiss wie es kommt: nach Liebesschwüren, Selbstmorddrohungen und fingierten Vergiftungen rühren sich Mitleid und Verwirrung in weiblichen Herzen und unter tatkräftiger Mithilfe der Dienerin Despina finden sich die Paare nach bloss einem Tag verkehrt herum verheiratet wieder. Die Intrige wird aufgedeckt und in schönstem C-Dur beschwört man Verzeihung und die Lust am Leben und Lachen.
So kann man das heute nicht mehr erzählen, das ist klar. Serebrennikov verlegt den Beginn in eine Kaserne: eine Wette unter Rekruten-Kollegen. Der Marschbefehl in den Krieg aber, der ist echt, und zurück kehren die beiden im Sarg und begleiten als Geister die Klamotte, die Alfonso mithilfe zweier Bodybuilder-Freunde mit ihren beiden Verlobten durchzieht. So wird aus der lockeren Frage nach der Treue zweier junger Mädchen während der Abwesenheit der Männer die Geschichte der martialischen Eroberung zweier durch den Verlust ihrer Männer in ihren Gefühlen getroffenen jungen Witwen. Eine Verführung mit teils extrem brachialen Mitteln, da scheut Serebrennikov mit zwei Schauspielern und den beiden szenisch sehr mutigen und beweglichen Sängerinnen keine Details.
Diese Arbeit ist zuerst einmal sehr unterhaltsam. Aber sie ist auch durchdacht, sehr einfallsreich und exzellent geführt bis in die kleinsten Details. Am Ende allerdings kann auch Serebrennikov den Weg zurück nicht wirklich finden. Da helfen nicht einmal die beklemmenden Akkorde des Komturs aus «Don Giovanni» aus. Dass sich die beiden Frauen ihrer Gefühle unsicher sind, das glauben wir gerne, aber dass sie sich von Geistern verunsichern lassen kaum, noch weniger, dass sie sich ins Unrecht versetzen lassen, denn man könnte ihnen als Witwen höchstens vorwerfen, sich ein wenig zu schnell wieder verliebt zu haben. So bleibt zum Jubel-Finale bloss der etwas abgenutzte Gag aus dem «tutte» des Werktitels ein «tutti» zu machen und als weiteres «Don Giovanni»-Zitat ein paar Inferno-Flammen aus dem Untergrund.
Auch musikalisch bewies diese Produktion ein erfreulich hohes Niveau. Sie konnte zählen auf ein hervorragendes, sängerisch versiertes und bewegliches junges Ensemble, mit einer leicht unterbelichteten Despina von Rebeca Olvera und einer Anna Goryachova als Dorabella, die in der Zeichnung der Linien etwas mehr Klarheit und Sauberkeit zeigen dürfte, dafür in den emotionalen Ausbrüchen vokal eine Wucht war. Tadellos die drei Männer, Andrei Bondarenko als Guglielmo mit sattem, wandlungsfähigem Bariton, Michael Nagy souverän bei seinem Rollendebüt als Alfonso und Frédéric Antoun mit wunderschönem Tenor-Timbre und mit dem nötigen Kern für den Ferrando, während die Armenierin Ruzan Mantashyan ebenfalls als Rollendebüt eine berührende, zwar noch nicht immer ganz freie und selbstbewusste, aber stimmlich makellose Fiordiligi sang.
Cornelius Meister dirigierte mit einer breiten Palette an musikalischen Ausdrucksbereichen, von quirligen, turbulenten Szenen in oft sehr raschen Tempi bis zu subtil ausmusizierten, in warme Klangfarbe getauchten lyrischen Momenten. Die Präzision im Orchester, aber auch zwischen Bühne und Graben allerdings litt zuweilen und ein wenig scheint die Mozart-Kompetenz dieses Orchesters im Vergleich zu den guten alten Zeiten von Welser-Möst und Harnoncourt etwas abgenommen zu haben.
Reinmar Wagner
Mozarts «Così fan tutte» in Bern
Mozarts Liebesverwirrungs-Komödie «Così fan tutte» erlebte am Berner Stadttheater eine fulminante Neuinszenierung, die szenisch von Maximilian von Mayenburg, musikalisch von Kevin John Edusei mit einem hervorragenden Ensemble gemeistert wurde.

Nein, der tiefgründige Philosoph und edle Denker ist Don Alfonso nicht. Hier ist er ein Bar-Keeper, der mit einigen Giftmischereien und eher billigen Zaubertricks das Verwirrspiel der beiden Liebespaare arrangiert. Er ist – das wird später in der Inszenierung von Maximilian von Mayenburg klar – selber ein Betrogener, das erklärt ein Stück weit seinen Zynismus und seine handgreiflich brachialen Mittel, mit denen er die üble Verkleidungsposse voran treibt. Seine Verbündete Despina dagegen scheint hier wirklich der flatterhafte Schmetterling zu sein, als den sie sich in ihrer grossen Arie gibt, und macht aus naiver Freude am Spiel mit.
Wieviel Komödie ist in «Così fan tutte»? Wie ernst sind die Gefühle, die im Lauf dieses einen Tages durcheinander gebracht werden? Wie nachhaltig kann der kurze Genuss einer einzigen Liebesnacht nachwirken? Oder lässt sich das alles mit einem Achselzucken wieder wegwischen: Schwamm drüber, es ist ja nicht wirklich viel passiert? Das jedenfalls sagt die Musik von Mozarts finalem Ensemble. Davor aber hat er gerade in seiner meisterhaften Art auf der Höhe seiner Fähigkeiten als musikalischer Zeichner von seelischen Zwischentönen deutlich gemacht, dass am Ende dieser Nacht nichts mehr so sein wird wie zuvor.
Bei Mayenburg dagegen ist alles wieder wie zuvor: Dieselbe Bar, dieselben Kleider, genügend Alkohol, um zu vergessen was war, und wieder da anzufangen, wo während der Ouvertüre die zwei Paare und Don Alfonso in ihre Wette um die Treue der Frauen starten. Das bedeutet nicht, dass Mayenburg die Echtheit und Tiefe dieser Gefühle negiert, im Gegenteil: Wir nehmen Fiordiligi ihre Seelennöte in jedem Wort und in jedem Takt ab, und auch Dorabella kippt nicht einfach so vom einen Verlobten zum anderen, wie auch die Nöte der schliesslich betrogenen Ehemänner durchaus existenzielle Dimensionen annehmen, im Kontrast zu den Possen, die sie davor gerissen haben.
Mayenburg gelingt es mit bewundernswert sicherer Hand, die emotionalen Tiefen seiner Figuren auszuloten und gleichzeitig die Komödie mit sehr viel unterhaltsamem Detailreichtum abschnurren zu lassen. Die ganze Verkleidungs-Klamotte braucht er gar nicht im Detail durchzuspielen, durch die Präzision seiner Personenführung glauben wir sie auch so. Und dazu kommt das Bühnenbild von Christoph Schubiger mit verspiegelten Wänden, poetischen Regen-Metaphern, farbigen Luftballons oder simplen Strassenlaternen, das zusätzlich beiträgt zum Eindruck von surrealem Schein und Unwirklichkeit. Kommt dazu, dass Mayenburg auf ein sehr bewegliches Ensemble zählen kann, das mühelos eintaucht in die turbulente Komödien-Handlung – und dabei fast unmerklich für die grossen Arien immer schön am Bühnenrand postiert agieren kann.
So können sie alle sich auch sängerisch von ihren besten Seiten zeigen, und tun dies auch auf kompetente, stilsichere und stimmlich einnehmende Weise. Umso erstaunlicher, wenn man erfährt, dass Oriane Pons, die eine berührend intensive, stimmlich vielseitige Fiordiligi sang, eigentlich für die Despina vorgesehen war, und die weit diffizilere Sopranrolle erst in den letzten Tagen vor der Premiere einstudiert hatte. Ihr Ersatz als Despina, die ungarische Sopranistin Orsolya Nyakas, ist ganz neu Ensemblemitglied am Berner Theater, lernte die Partie ebenfalls innerhalb weniger Tage, und die fehlende Vertrautheit war ihr ebensowenig wie ihrer Kollegin anzumerken. Das spricht stark für das Potenzial dieses Opern-Ensembles, denn auch auf allen anderen Positionen war die Produktion stark besetzt: Nazariy Sadivskyy sang mit strahlend-warmem Tenor den Ferrando, Eleonora Vacchi eine grundsolide Dorabella, Todd Boyce mit passender Kälte und Schärfe den Don Alfonso und Michal Marhold mit kerniger Virilität den Guglielmo.
Beste Noten verdiente sich auch die musikalische Begleitung, zum einen von einer sehr präsenten, äusserst vielseitige arpeggierenden Sonja Lohmiller am Hammerklavier. Und natürlich von Kevin John Edusei, dem Chefdirigenten des Berner Theaters, der schon in den beiden anderen «Da Ponte-Opern» von Mozart in Bern mit Klangfarben- und Detailreichtum brilliert hatte. In der schwierigen Situation mit umgestelltem Sängerensemble agierte er als souveräner Koordinator, machte aber nicht die geringsten Abstriche etwa in den Tempi, die sein Orchester immer wieder hörbar bis an die Grenzen forderten. Schön, wie er immer wieder verschüttete Mittelstimmen ans Tageslicht rückt, gewohnt mitreissend, wie er die Klangfarben historisch informierter Orchesterpraxis aus dem Berner Sinfonieorchester heraus holt – mit Barocktrompeten und -Hörnern (die ziemlich zu beissen haben). Die Präzision in allen Registern kann noch ein bisschen besser werden, aber das vermochte den hervorragenden Gesamteindruck dieser Produktion nicht zu trüben.
Reinmar Wagner