Zermatt: Das Festival wird zum Musikfest
Eine reizvolle Kombination für interessant konzipierte Konzertprogramme: Christiane Karg, David Philip Hefti und das Scharoun-Ensemble gaben beim Zermatt Festival den Ton an.

Man hat Mut beim Zermatt Festival: Ein Stück wie die «Metamorphosen» von Richard Strauss aufs Programm zu setzen, käme wohl nicht jedem Veranstalter in den Sinn. 23 Streicher spielen Kammermusik, jeder hat seine eigene Stimme in ständig wechselnden Allianzen, durch die Strauss ein einziges Thema in immer wieder neuer Gestalt und klanglicher Balance aufscheinen lässt. Vor dem Hintergrund seiner Kriegs-zerstörten Heimatstadt München beschwört der gereifte Komponist noch einmal seine ganze Meisterschaft in spätromantischer Harmonik und zeigt am Ende mit dem Zitat aus Beethovens «Eroica»-Trauermarsch nicht nur seine Betroffenheit, sondern offenbart den Ursprung seines «Metamorphosen»-Themas und auch die Quelle der Inspiration seiner späten Jahre.
Die Streicher des Scharoun-Ensembles der Berliner Philharmoniker, das seit bald 20 Jahren beim Zermatt Festival den harten Kern und das künstlerische Gewissen bildet und in der Academy die jungen Talente unterrichtet, wagten zusammen mit ihren Studenten dieses herausragende Beispiel an struktureller und formaler Meisterschaft. Rein technisch sind diese Linien keine Hexerei, die Schwierigkeiten liegen darin, die Spannung über die 35 Minuten reinen Streicherklangs aufrechtzuerhalten und im dichten Geflecht der mäandrierenden Stimmen ständig bewusst die strukturellen und klanglichen Balancen auszutarieren. Der Mut wurde belohnt: In der Zermatter Dorfkirche gelang eine intensive und spannungsgeladene Interpretation dieses berührenden Abgesangs auf eine endgültig zusammengebrochene Welt. Die begleitet wurde von weiteren sehr gelungenen Auftritten am zweiten Festival-Wochenende in Zermatt.
Neben dem Scharoun-Ensemble und den Studenten der Academy prägten zwei herausragende Musikerpersönlichkeiten die Konzerte: Die deutsche Sopranistin Christiane Karg und der Schweizer Komponist und Dirigent David Philip Hefti. Der hatte sogar ein brandneues Werk im Gepäck, das er im Auftrag des Festivals dem Scharoun-Ensemble zu seinem 40. Geburtstag auf dein Leib geschrieben hatte. Die Besetzung also entspricht jener klassischen dieses Ensembles, das sich an Schuberts Oktett anlehnt, also Klarinette, Horn, Fagott, Kontrabass und Streichquartett. Auf Schuberts Meisterwerk rekurriert denn auch das neue Oktett von Hefti mit dem Titel «Des Zaubers Spuren». Man kann zwar in den Kantilenen, die Hefti zwischen den oft heftigen Attacken und den ausgefeilten Klangfarben-Kombinationen zwischendurch auch zulässt, manchmal die melodische Gestik Schuberts ein wenig erahnen. Direkte Zitate aber unterlässt der Komponist, eher subkutan ist Schuberts «magische» Kunst in dieses neue Werk eingeflossen.

Schubert gab es dann doch noch: Hefti dirigierte die vierte Sinfonie an der Spitze des Zermatter Festival-Orchesters, und er begleitete auch Christiane Karg in den sieben «frühen Liedern» von Alban Berg in einer Bearbeitung von Reinbert de Leeuw, die in ihrer Besetzung angelehnt ist an den Privat-Konzerten des Schönberg-Kreises in Wien, was vor allem die heute exotische Klangfarbe des Harmoniums einschliesst. Die deutsche Sopranistin bewies nicht nur einen aussergewöhnlichen Reichtum an stimmlichen Ausdrucksmitteln, sondern auch eine überaus vorbildliche Diktion, die diese noch in der Romantik verwurzelten Lieder zu emotionalen Miniaturen werden liessen.
Tags darauf im wundervollen Zyklus «Les nuits d’été» von Berlioz zog Christiane Karg erneut alle Register ihrer vielseitigen Stimme. Und in der kleinen Kapelle auf der Riffelalp auf 2200 Metern Höhe auf dem Weg zum Gornergrat, präsentierte die Sängerin wiederum mit einem beeindruckenden Repertoire an Farben, Sprachnuancen und emotionalen Schattierungen die fünf Rückert-Lieder von Gustav Mahler, die Hefti für Streichquartett neu instrumentiert hat. Die Scharoun-Streicher – nachdem die Kollegen zuvor mit einer burschikos-frischen Variante des Beethoven Bläseroktetts brilliert hatten – übernahmen selbst die Aufgabe, diese neuen Klangfarben für Mahlers bekannte Harmonien auszuführen, für die Hefti virtuos sämtliche streicherischen Spiel-Möglichkeiten auslotet.
Sie standen im Wechsel mit Heftis sechstem Streichquartett, das den Untertitel «Fünf Szenen für Gustav» trägt und dessen fünf Sätze auf die Rückert-Lieder reagieren und sie mit den klanglichen Möglichkeiten von heute kommentieren. Eine sehr reizvolle Gegenüberstellung von Mahlers hochromantischen Innenwelten mit der Musiksprache einer gemässigten Avantgarde, die es versteht, formale Ideen kunstvoll mit Klangfarben zu verbinden und so Mahlers Emotionalität eine nicht minder nachvollziehbare und berührende Gefühls- und Gedankenwelt an die Seite zu stellen.
Reinmar Wagner
Eine Reise ins Universum, mit Bach im Gepäck
Bei den Bachwochen Thun steht der Namenspatron natürlich im Zentrum. Was nicht heisst, dass man sich in einem Bach-Museum bewegt. Wie man mit Bach mühelos ins 21. Jahrhundert eintauchen kann, zeigte ein spannendes «BachSpace»-Konzert.

Es beginnt so bekannt wie harmlos: Präludium Nummer 1, C-Dur, das erste Stück im «Wohltemperierten Clavier» und für viele Klavierschüler wohl auch die erste Bekanntschaft mit Bach überhaupt. Die israelische Pianistin und Cembalistin Tamar Halperin spielt es auf dem Bösendorfer unaufgeregt und in gleichmässigem Rhythmus. Dann übernimmt die Geige von Tamás Vásárhelyi einzelne Motive daraus, das Klavier sekundiert mit abgewandeltem Material und vom Computer aus steuert Tomek Kolczynski verfremdete Floskeln aus der eben gehörten Musik und vorgefertigte Rhythmus-Muster bei, die er live über seine Steuergeräte modulieren und klanglich variieren kann.
Ganz rasch sind wir ganz woanders. Die drei Musiker auf der Bühne, unterstützt vom Tontechniker Amadis Brugnoni, werfen sich Motive wie Ping Pong-Bälle zu, spielen nicht nur mit den musikalischen Versatzstücken aus Bachs Werken, sondern auch mit den emotionalen Abläufen und atmosphärischen Stimmungen, die wiederum vom Lichtdesign unterstützt werden. Oder sie lassen sich auch einfach mal treiben von den Rhythmen und Sphärenklängen in ein Universum, dem man die Verwandtschaft mit Bach manchmal gar nicht mehr anhören können muss.
Beeindruckend insgesamt, wie abwechslungsreich und unterschiedlich diese neugemixten Bach-Interpretationen klangen. Der Gefahr, sich in ähnlichen Mustern zu wiederholen ist dieses Ensemble mit viel Detailreichtum und konsequenter Dramaturgie gekonnt ausgewichen. Dem geradlinigen Klavierspiel von Tamar Halperin hörte man auch dann gerne zu, wenn sie etwa nichts weiter als eine Solo-Partita spielte, Beim ungarischen Geiger, Mitglied des Kammerorchesters Basel, fehlte bei diesem Auftritt immer wieder ein wenig die Orientierung und die klangliche Finesse in einem Geigenspiel, das sich barocken Vorbildern annäherte, sie aber nicht so richtig verinnerlicht hatte. Das liegt hauptsächlich daran, dass Vásárhelyi für diesen Auftritt eingesprungen ist. Dieses «BachSpace»-Projekt wurde vor ein paar Jahren mit einem anderen Geiger, Etienne Abelin, entworfen und entwickelt. Er steht nicht mehr zur Verfügung, und dass es nicht leicht ist, sich neu in eine so ausdifferenzierte Sound-Collage einzufügen, das leuchtet unmittelbar ein.
Tomek Kolczynski hat sich von einer Thuner Gymnasiumsklasse auch in die Karten blicken lassen: Zusammen mit Christa Gerber leitete er die Schüler und Schülerinnen an, sich selber mit elektronischen Mitteln Bachs Musik zu nähern und ihre eigenen Bach-Remixe zu fabrizieren. Das Publikum konnte rund um das Konzert auch in diese Ergebnisse reinhören, und auf dem Youtube-Kanal des Festivals sind sie ebenfalls nachzuhören.

«Richtigen» Geigen-Bach gab’s dann auch noch bei den Bachwochen Thun: in der romanischen Festungskirche von Amsoldingen spielte die ukrainische Geigerin Diana Tishchenko zwei seiner sechs Werke für Sologeige, die E-Dur-Partita und die d-Moll-Partita mit der berühmten, sämtliche Grenzen sprengenden Chaconne. Dazwischen stand als romantischer Kontrast die e-Moll-Sonate von Eugène Ysaÿe, die Nummer vier aus dem Sextett, das dieser nicht nur als Reaktion auf Bachs grosse sechs Solowerke komponierte, sondern dabei auch die grössten Geiger seiner Zeit als Inspirationsquelle vor den Ohren hatte. Die vierte ist dem warmen, zartschmelzenden Ton und dem Wiener Charme von Fritz Kreisler gewidmet. Die unter anderem bei Ulf Wallin in Berlin ausgebildete Geigerin bewies dabei nicht nur ein ein blitzsauberes Geigenspiel und technische Makellosigkeit, sondern auch eine beeindruckende Präsenz, mit der sie mühelos den ehrwürdigen Kirchenraum ausfüllen konnte.
Reinmar Wagner