Studio

Schweizer Orchester aktiv auf CD

3.1. OCL KopieEs ist fast wie in Basel am «Morgestraich»: Verschiedene Gruppen spielen verschiedene Märsche gleichzeitig und jede hat ihren eigenen Takt und individuellen Rhythmus. Charles Ives hat diese Szene eingefangen im mittleren Teil seiner sinfonischen Dichtung «Three Places in New England». Dort, in Redding, Connecticut, sind es historisch kostümierte Militärvereine, die sich zum 4. Juli gegenseitig aus dem Takt zu bringen versuchen.

Aus dem Takt bringen lassen sie sich nicht, die Musikerinnen und Musiker des Orchestre de Chambre de Lausanne unter ihrem ehemaligen Leiter Joshua Weilerstein. Mit viel Musizierlust und einer bunten Farbenpalette fangen sie diese Szene ein und geben den quirligen Wuselbildern ebenso suggestiv Gestalt wie den durchaus mit einigem Pathos aufgeladenen Landschafts-Schilderungen, die Ives aus Stimmungen und Erinnerungen an seine Heimat eingefangen hat. Da ist etwa auch die musikalische Betrachtung eines Kriegerdenkmals oder die meisterhaft gezeichnete Szene einer ruhigen See, unter deren Oberfläche allerlei Tragödien brodeln.

Auf der neuen CD des Lausanner Orchesters bei Claves mit Musik aus den USA und Grossbritannien finden sich auch zwei Serenaden der englischen Komponistin Ethel Smyth. Die erste, für Streicher, ist das Orchesterarrangements ihres ersten Streichquintetts, das sie noch unter dem Eindruck ihrer Lehrjahre bei Johannes Brahms schrieb. Auch die farbigere D-Dur-Serenade ist ein Frühwerk der britischen Komponistin, in dem sie reizvoll und gekonnt die romantische Tonsprache ausprobiert, was das Lausanner Orchester ebenso reizvoll klanglich umsetzt.

Die Lausanner sind nicht die einzigen unter den professionellen Sinfonieorchestern, die sich gerade auf dem CD-Markt bemerkbar machen. Das Tonhalle-Orchester hat unter der Leitung von Paavo Järvi gerade mit seiner Einspielung von Bruckners achter Sinfonie (bei Alpha) seine Kategorie bei den ICMA-Preisen gewonnen. Aus dem Tessin kommt eine bemerkenswert gelungen Einspielung von Tschaikowskys letzten beiden Sinfonien mit dem Orchestra della Svizzera Italiana unter seinem Chefdirigenten Markus Poschner, ebenfalls bei Claves, die wir in der nächsten Ausgabe von M&T besprechen.

3.2. OSR KopieUnd auch der grösste Klangkörper der Romandie, das Orchestre de la Suisse Romande markiert CD-Präsenz: Das Label Brillant versammelt auf einer üppigen 10-CD-Box sämtliche Sinfonien von Anton Bruckner plus die f-Moll-Messe, die unter Marek Janowski in den Jahren 2009-2012 für Pentatone eingespielt worden sind. Janowskis Bruckner klingt bemerkenswert transparent und schlank, lässt dabei aber weder Wärme noch Intensität vermissen. Die Dynamik ist wach, die Tempi werden nie zäh, die Rubati nie demonstrativ und Gewicht und Pathos bleiben auf die wenigen passenden Stellen beschränkt.

Reinmar Wagner


Barock aus Basel

3.2. Cover 0196588134326 KopieGleich auf zwei neuen CDs ist die glockenhelle und klare Sopranstimmen von Nuria Rial zu hören. Beide bieten wenig bekanntes bis komplett neues Barock-Repertoire, und beide beweisen auch einmal mehr, welche Stilkompetenz für die Klangsprache dieser Epoche und wie viel musikalische Klasse sich in der Stadt Basel hat etablieren können. Und doch klingen die «Begleitbands» ziemlich unterschiedlich. Bei der Barockformation des Kammerorchesters Basel gibt die Geigerin Julia Schröder mit angriffiger Virtuosität und reizvoller Verzierungslust bis hin zu neckischen Glissandi den Ton an. Concerti grossi des Bologneser Komponisten Giuseppe Torelli sind ein prächtiger Laufsteg für die Streicherbrillanz von Schröder und ihren Kollegen, unter denen Antonio Vinuales Pérez als zweiter Geiger ebenfalls mit virtuoser Spielfreude hervortritt. Nuria Rial beweist nicht minder stimmliche Beweglichkeit und Verzierungs-Finessen und bringt auch die Möglichkeiten sprachlicher Gestaltung suggestiv in die Gesangslinien ein. Sie leiht ihre Stimme zwei Kantaten und einer Arie von den kaum bekannten Bologneser Komponisten Giovanni Paolo Colonna, Giacomo Antonio Perti und Carlo Francesco Pollarolo, die durch Originalität und teilweise akrobatische Virtuosität auffallen.

3.1. Cover 0196587106829 KopieAuf der zweiten CD spielt das Ensemble «La Floridiana» von der Organistin und Cembalistin Nicoleta Paraschivescu, und ihre CD ist ganz dem üppigen und in weiten Teilen wenig bekannten Werk des Venezianers Benedetto Marcello gewidmet. Hier wird sehr viel mehr Wert auf Struktur gelegt, dynamische Kontraste gewinnen Gewicht, die Details der Verzierungen und Ausschmückungen verlegen sich in die virtuos ausgesetzte Cembalo-Stimme. Das ist natürlich für eine Sopranstimme vom Format einer Nuria Rial ein überaus willkommener Laufsteg. Sie nutzt denn auch die freien Gestaltungsmöglichkeiten nach Lust und Laune und weiss sich im sattelfesten Continuo bestens aufgehoben. Das Ensemble erhält seinerseits Gelegenheit zur Demonstration seiner kompakten Barock-Kompetenz in den Instrumentalen Sinfonie, die ebenfalls wahrscheinlich von Marcello stammen und nach barockem Gebrauch den Kantaten vorangestellt werden. Interessant, dass die «Floridiana»-Streicher in diesem deutlich spätbarockeren Repertoire eine Verzierungs-Kultur pflegen, die man eher im frühbarocken Stil in Torellis Umfeld erwarten würde. Was nicht heisst, dass es unpassend wäre, sondern beweist, dass in den 150 Jahren Barock-Zeitalter auch ganz unterschiedliche stilistische Vorlieben, musikalische Ästhetiken und improvisatorische Vorlieben ganz selbstverständlich ihren Platz haben und auch damals wahrscheinlich hatten. Reinmar Wagner

Concerti, Kantaten und Arien von Torelli, Colonna, Perti und Pollarolo. Nuria Rial (Sopran), Kammerorchester Basel, Julia Schröder (Violine und Leitung). DHM 196588 134326

Benedetto Marcello: Sinfonias & Cantatas. Nuria Rial (Sopran), La Floridiana Nicoleta Paraschivescu. DHM 196587 106829


Kapriziöse Blockflöte

1. Maurice StegerHat Bach ein Konzert für Blockflöte komponiert? Nicht wirklich, sieht man vom Spezialfall der Brandenburgischen Konzerte ab, deren Motivation es war, möglichst sämtliche Instrumente solistisch zum Klingen zu bringen. Jedenfalls hat Bach kein Konzert veröffentlicht, das diese Besetzung nennt, und es sind auch keine eindeutigen Quellen zu einer entsprechenden Aufführung überliefert. Spielt es eine Rolle? Nicht wirklich, jedenfalls dann nicht, wenn Maurice Steger Bach spielt. Abgesehen davon, dass die Musik Bachs, auch die konzertante, sich in fast allen beliebigen Besetzungen jeweils gut anhört, schafft es der Schweizer Blockflötist von den ersten Tönen des D-Dur-Konzerts BWV 1053 an, das üblicherweise dem Cembalo als Soloinstrument gehört, sich diese Musik auf eine Weise zu eigen zu machen, dass man ihm sogleich abnimmt, dass Bach das genauso gedacht haben muss. Seine hauptsächlichen Stilmittel sind der Reichtum an Verzierungsnuancen: Quirlig, verspielt, manchmal richtig kapriziös in den schnellen Sätzen, ruhig atmend und immer wieder mit agogischen Finessen das Metrum verwischend im langsamen. Ähnlich hält es Steger beim F-Dur-Konzert BWV 1057, von dem wir wissen, dass es eben jenes Brandenburgische mit Solovioline und zwei Blockflöten war, bevor Bach es zum Cembalokonzert umgeschrieben hat. Und was eine Violine kann, kann Steger natürlich nicht minder virtuos. Für Abwechslung sorgt die Werkauswahl dieser Hommage an Bach. Plötzlich reisst eine Oboe da caccia die Initiative an sich und intoniert den Anfang des berühmten Ricercars aus dem «Musikalischen Opfer», einer sechsstimmigen Kontrapunkt-Studie, die hier zusammen mit den Musikern des Basler «La Cetra»-Barockorchesters eine komplett andere Klang- und Gedankenwelt als in den Concerti eröffnet. Und wenn sich Steger die Sonate BWV 1035 vornimmt, dann ist er zumindest sehr nahe am Original, das Bach der Traversflöte geschenkt hat.

Reinmar Wagner

J. B. Bach: Concerto BWV 1053, Ricercar aus dem «Musikalischen Opfer», Sonate BWV 1020, Triosonate BWV 527, Sonate BWV 1035, Concerto BWV 1057. Maurice Steger (Blockflöte und Leitung), La Cetra Barockorchester Basel. Berlin Classics 0303072BC


Zwischen Trauer und Trost

2. Stabat MaterDas Kammerorchester Basel arbeitet an seinem grossen Haydn-Projekt, der Aufnahme aller Sinfonien unter Giovanni Antonini, die bis zum Haydn-Jahr 2032 vollendet sein soll. Bei so viel angehäufter Haydn-Kompetenz liegt es nahe, dass auch andere Dirigenten gerne darauf zurückgreifen. René Jacobs hat sich in letz- ter Zeit eher mit Bach, Beethoven oder Schubert beschäftigt und schon lange nicht mehr mit Haydn auf sich aufmerksam gemacht. Jetzt hat er das 1767 ent- standene Stabat Mater ausgesucht, mit dem sich Haydn am Hof der Esterházy auch als Komponist von Kirchenmusik etablierte. Diese Domäne hatte sich Gregor Joseph Werner bis zu seinem Tod vorbehalten. Haydns Werk wurde rasch populär und konkurrenzierte bald in ganz Europa mit Pergolesis berühmter Fassung um die Gunst der beliebtesten Vertonung jenes mittelalterlichen Textes, der den Schmerz der Mutter am Fuss des Kreuzes sehr anrührend zum Ausdruck bringt. Haydns erste Instrumentierung umfasste nur Streicher und zwei Oboen. 1803 ging er zusammen mit seinem Schüler Sigismund Neukomm daran, sie wesentlich auszuweiten: eine Flöte, zwei Klarinetten, Fagotte, Hörner, Trompeten, Pauken und drei Posaunen machten das Werk zum farbenprächtigen Oratorium. Pergolesi hatte überaus melancholische und düstere Töne angeschlagen. Haydn dagegen hüllt die Trauer immer wieder gerne auch in zuversichtliche und hoffnungsfrohere Stimmungen: Die Hälfte seiner Sätze steht in einer Dur-Tonart, und das Werk schliesst mit einer strahlenden G-Dur-Fuge. Den ständigen Wechsel zwischen Trauer und Trost lässt René Jacobs zur Leitlinie seiner Interpretation werden, die beide Emotionen gleichermassen suggestiv ausformt, aber jegliches Exaltieren vermeidet. Das Orchester bringt die Farben der teilweise alten Instrumente sehr schön zum Blühen, die mittlerweile mit Jacobs vertraute Zürcher Sing-Akademie bietet einen gepflegten Chorklang und auch im Solistenquartett bleiben keine Wünsche offen.

Reinmar Wagner

Joseph Haydn: Stabat Mater. Brigitte Christensen, Kristina Hammarström, Steve Davislim, Christian Immler, Zürcher Sing-Akademie, Kammerorchester Basel, René Jacobs. Pentatone PTC 5186 953


Wir lieben den Drachen

3. DessauEin bisschen erstaunt ist man schon: Da zwitschern Vögel munter in der Ouvertüre, Hörnerklang und Waldweben, man wähnt sich eher bei Richard Wagner als bei Paul Dessau. Und dass einer wie der Kommunist und Wahl-DDR-Bürger sich schon überhaupt ein Sujet wie den romantischen Ritter Lanzelot auswählt, lässt auch Fragen offen. Ein paar Minuten später sind wir dann angekommen in den Klangsphären, die wir mit Paul Dessau verbinden würden: Sprech-Chöre, Filmmusik-ähnliche Untermalungen, Schlagwerk à discrétion. 1969 kam dieses Musiktheater auf die Bühne der Ostberliner Deutschen Staatsoper. Eine politische Parabel: Das Volk lebt lieber behütet und betreut unter der Knecht- schaft eines Drachen als selbstbestimmt sein Schicksal in die Hand zu nehmen. Die Theater von Weimar und Erfurt haben nun dieses zentrale Werk im Œuvre von Paul Dessau wieder auf die Bühne gebracht und hinterfragt, inwieweit es abseits realpolitischer Agitation taugt. Tatsächlich wirkt aus heutiger Perspektive vieles so brachial, dass man um ein Schmunzeln kaum herumkommt. Andererseits gibt es auch Momente, die keinen Staub angesetzt haben. Insgesamt ist diese satirische Groteske tatsächlich masslos überzeichnet. Aber könnten wir behaupten, dass wir so sehr viel freier wären von bequemem Mitläufertum und dem Verschliessen der Augen vor den wirklich dringlichen Problemen unserer Zeit? Paul Dessau hielt nicht seinem Regime den Spiegel vor, aber in erstaunlichem Mass tut er es 50 Jahre später uns. Verdienstvoll deshalb, dieses Werk hier wieder zur Diskussion zu stellen, nicht, weil wir es als mehr ansehen könnten, denn als Dokument einer eng begrenzten Epoche und Gesellschaft. Sondern weil es uns tatsächlich ein wenig ins Grübeln bringen könnte, ob unser Denken denn wirklich so viel weniger auf Mainstream-kompatibler Bequemlichkeit beruht, als in dieser Satire aus dem real existierenden Sozialismus.

Reinmar Wagner

Paul Dessau: «Lanzelot». Emily Hindrichs, Mété Sólyom-Nagy, Oleksandr Pushniak, Juri Batukov, Wolfgang Schwaninger u. a. Chöre des Theaters Erfurt, Staatskapelle Weimar, Dominik Beykirch. Audite 23.448 (2 CDs)


Marien-Lob von einem Skeptiker

2. Raff

Basel wurde zum Wendepunkt im Leben von Joachim Raff: Als armem Musiker fehlte ihm das Geld für die Kutsche, aber er wollte sein Idol Franz Liszt treffen, der 1845 in Basel ein Konzert gab. Zu Fuss machte er sich also von Zürich auf, kam im strömenden Regen und zu spät im Konzertsaal an. Liszt hatte Erbarmen, bat den triefend nassen Besucher auf die Bühne, weil sonst alle Plätze belegt waren, und zeigte sich anschliessend vom musikalischen Wissen und der hohen Allgemeinbildung Raffs derart angetan, dass er ihm eine Stelle als Assistent in Weimar anbot. Die Geschichte wurde oft erzählt 2022, im Jubiläumsjahr zum 200. Geburtstag des in Lachen geborenen Schweizer Komponisten.

Basel aber kam auch eine der interessantesten diskographischen Entdeckungen des Raff-Jahres: Raphael Immoos, seit 2013 Leiter der Basler Madrigalisten, einem der wenigen Schweizer Vokalensembles von europäischem Format, hat immer wieder eine gute Hand bewiesen für das Aufspüren von lohnenden, aber vergessenen Chorwerken. Für das Jubel-Jahre hat er sich nach Chorwerken von Joachim Raff umgesehen und konnte einige sehr spannende Entdeckungen machen.

Breit ist es zwar nicht, es passt bequem auf eine CD, das Werk für unbegleiteten Chorgesang von Joachim Raff. Dabei war er nun wirklich nicht faul, der in Lachen am Zürichsee geborene Komponist, aber ganz offensichtlich sah er seine Kernkompetenzen nicht im Schreiben für Chöre oder Vokalensembles, sondern in seinen tatsächlich herausragenden Fähigkeiten als variantenreicher Orchestrierungs-Künstler, als Schöpfer grosser romantischer Opern sowie von Sinfonien, Klavier- und Kammermusik. Dass er als religiös zumindest skeptischer Mensch ein Engagement für die Kirchenmusik nicht gerade als zentralstes Seelen-Bedürfnis erlebte, mag mitgespielt haben, dass nur wenige geistliche Chorwerke entstanden. In einem Brief bezeichnete er sich als «desparaten Christen», in einem anderen erklärte er sich als Spinozist (eine Art Pantheismus). Die hier eingespielten a cappalla-Chorwerke hat Raff allesamt auch nicht veröffentlicht.

Die Basler Madrigalisten liessen sich davon aber nicht beeindrucken und präsentieren zum Jubiläumsjahr die längst vergessenen geistlichen Chorlieder und Motetten von Joachim Raff. Weit über Brahms geht nicht hinaus, was jener im mehrstimmigen Singen für die Kirche angestrebt hat, aber es kann diesem durchaus die Hand reichen. In den «Marianischen Antiphonen» mögen sich neben reizvollen Spiegelungen barocker Formen, des Palestrina-Stils, oder noch älterer Vorlagen, gewisse Anlehnungen an die Traditionen deutscher Kirchenmusik finden.

Mehr Gewicht hatte Raff seinen zehn weltlichen Gesängen gegeben, die er auch unter der Opuszahl 198 veröffentlicht hat. Was sich hier an Variantenreichtum zwischen emotionaler Tiefe und munterer Volkstümlichkeit zeigt, lässt immer wieder aufhorchen. Mit vielseitiger romantischer Harmonik, aber auch raffinierten Wort-Ton-Verbindungen oder zwischendurch auch mit fast schon modern anmutender Spröde und Kargheit des Tonsatzes überrascht Raff am laufenden Band.

Den Basler Madrigalisten unter Raphael Immoos gelingt es hervorragend, diese vielen stilistischen Feinheiten zum Ausdruck zu bringen. Ihr schlanker, immer lupenreiner Ensemble-Gesang überzeugt ebenso wie die Homogenität des Chorklangs und die vorbildliche Diktion, die Raffs Chorlieder im besten Licht erscheinen lassen und so vielleicht Anstoss dazu bieten können, dass sich auch andere Chöre mit diesen reizvollen Stücken beschäftigen.

Reinmar Wagner

Joachim Raff: 10 Gesänge op. 198, Vier Marianische Antiphonen, Ave Maria, Kyrie und Gloria, Pater Noster. Basler Madrigalisten, Raphael Immoos. Capriccio C5501


Wunder werden wahr!

1. Kissin1984 gab in Moskau ein Zwölfjähriger ein aufsehenerregendes Debüt: Evgeny Kissin spielte die beiden Klavierkonzerte von Chopin, notabene an einem Abend. Ein Konzertmitschnitt bewahrt das bis heute: Ein Wunderkind fiel damals sozusagen vom Himmel. Heute, fast 40 Jahre später, konstatiert man: Eines ist geblieben, nämlich das Wunder. CD-Mitschnitte – im vorliegenden Fall Kissins umjubelter Auftritt bei den Salzburger Festspielen 2021 – bieten die zuweilen willkommene Gelegenheit, sich ein Konzertprogramm portionenweise anzuhören, Schritt für Schritt, Musikstück für Musikstück, weil das Ganze auf einmal womöglich zu viel wäre. Nicht so hier. Zwei CDs sind es, und ich habe sie mir in einem Zug angehört, weil mich der Sog von Kissins Klavierspiel gefangen hielt und nicht mehr losliess bis zum Schluss. Bis zu den vier Zugaben.

Den Anfang macht Kissin mit Bergs Klaviersonate – extrem luzide und mit Bedacht gespielt: ein Triumph der Moderne. Diesem stellt er Klavierstücke von Tichon Chrennikov gegenüber, dem gefürchteten Generalsekretär des sowjetischen Komponistenverbandes, unter dem Prokofjew wie auch Schostakowitsch litten. Dabei hatte Chrennikov, wie hier zu hören ist, durchaus auch modern «formalistische» Musik komponiert, aber vielleicht nicht mit demselben Erfolg wie die grossen, von ihm angeprangerten Komponisten. Anschliessend ein Ausflug in die amerikanische Moderne: Gershwins drei Préludes, deren musikalisch-rhythmisches Idiom Kissin perfekt in den Händen liegt.

Nach der Konzertpause dann Chopin. Ungemein beeindruckend in ihrer tieflotenden Emotionalität sind die drei Impromptus, denen man im Konzertsaal vielleicht gerade wegen dieser an Verletzlichkeit grenzenden Emotionalität eher selten begegnet. Hier lotet Kissin Wunderwelten aus. Überhaupt ist er ein begnadeter Chopin-Interpret, und mit dem ersten Scherzo sowie der heroischen As-Dur-Polonaise beweist er das, magistral wie heute kaum ein Zweiter. Wie gesagt: noch vier Zugaben. Ein «Lied ohne Worte» von Mendelssohn sowie Chopins zweites Scherzo – und als besonderer Überraschungscoup sein dodekafonischer Tango. Ein herrliches Verwirrspiel von alt und neu, von südamerikanischen Rhythmen und stahlharter Zwölftonpianistik. Ein Stück nicht zuletzt zum Schmunzeln.

Werner Pfister

Evgeny Kissin: The Salzburg Recital. Berg, Chopin, Chrennikov, Gershwin, Mendelssohn, Debussy. DG 4862990 (2 CDs)


Venezianische Klangpracht

4. DavidWas für eine Überraschung gleich bei den ersten Klängen! Da ist sie wieder, die saftige Opulenz der klassischen Schütz-Aufnahmen mit dem Dresdener Kreuzchors unter Rudolf Mauersberger aus den Sechzigerjahren. Nichts von den zwischenzeitig manchmal produzierten abgespeckten und dünn besetzten Sparvarianten. Man hatte dort argumentiert, die Barockzeit sei missverstanden worden, die satte Üppigkeit sei ein Kind der Romantik. Daran mögen wir nach dem Anhören dieser CD nicht mehr glauben. Es sind hier frühere Werke von Schütz eingespielt, noch unter dem Eindruck seiner Venedig-Reisen entstanden, und den frühbarocken Venezianern wird man wohl nicht Sprödigkeit und Askese nachsagen wollen. Alles ist dennoch nicht gleich wie zu Mauersbergers Zeiten. Neu ist namentlich die Agilität der Vokalsoli und der Instrumentalisten. Nach Herzenslust wird hier verziert und diminuiert. Einerseits stehen die statischen Dreiklänge, besonders der Blechbläser, lupenrein und schwebungsfrei im Raum; andererseits kostet man die Dissonanzen aus, fügt auch die eine oder andere hinzu. Eine bemerkenswerte Leistung der Cris de Paris unter Geoffroy Jourdan, die auch bezüglich deutscher Aussprache optimal gecoacht waren.

Stephan Thomas

Heinrich Schütz: David & Salomon (Psalmen und Motetten aus opp. 2, 4, 6). Les Cris de Paris, Leitung: Geoffroy Jourdain. Harmonia Mundi HMM 905346


Rekordverdächtig breit

1. FrayNach zwei Aufnahmen mit Klavierkonzerten von Bach legt David Fray nun die «Goldberg-Variationen» vor. Eine äusserst komplexe Angelegenheit: Wie soll man jeder der 30 Variationen ihr eigenes Gesicht und Gewicht verleihen und dabei gleichzeitig den Sinnzusammenhang des ganzen Zyklus im Auge behalten? Fray entscheidet sich primär fürs Detail: Jede Phrase, zueilen gar jeder Ton wird sozusagen einzeln ausdifferenziert und erhält dadurch seine eigene Bedeutung. Um das zu realisieren, werden Tempi immer wieder minim verzögert oder beschleunigt – Agogik nennt man das, aber manchmal tut Fray hier wohl des Guten zu viel, weil es auf Kosten der Linie geht. Letztlich ist das ein zutiefst romantisches Klavierspiel; im Vergleich dazu war Wilhelm Kempff, auf den sich Fray als Bach-Interpret neulich in einem Interview bezog, geradezu nüchtern. Mit Kempff gemeinsam aber hat er den sonoren Klavierklang. Und dank rekordverdächtig breiter Tempi ist auch die Transparenz des Klaviersatzes gewährleistet, was immer wieder aufschlussreiche Einblicke in die Beschaffenheit dieser Musik ermöglicht. Letztlich eine sehr «sprechende» Interpretation, auch wenn Frays Spiel in keiner Weise einer barocken Original-Authentizität das Wort redet. Und am Schluss, in der Wiederholung der Aria, zieht er sich Schritt für Schritt ins kaum noch Wahrnehmbare zurück. Beeindruckend.

Werner Pfister

Bach: Goldberg-Variationen. David Fray (Klavier). Warner Classics 0190296606915


Perkussive Brillanz

3. Melnikov BrahmsAlexander Melnikov ist bekannt dafür, nicht nur historisch informiert zu spielen, sondern auch die jeweils passenden historischen Instrumente zu wählen. Für das erste Klavierkonzert von Brahms fand er einen Blüthner-Flügel aus dem Jahr der Uraufführung dieses Konzerts: 1859. Zwar muss er lange warten auf seinen Einsatz, der russische Pianist, nicht nur, weil Brahms in diesem sinfonischen Konzert dem Orchester eine sehr lange Einleitung zugesteht, sondern auch, weil die « Tragische Ouvertüre » dem Konzert vorangestellt wird. Aber man hört ihnen gerne zu, den Musikern des Sinfo- nieorchesters Basel unter ihrem Chefdirigenten Ivor Bolton. Auch sie geben dem Klangbild historische Farben, spielen sensibel und transparent, und Bolton stellt der Dramatik von Brahms’ Klangsprache eine wache, lebendige Agogik entge- gen. In diese lässt sich auch Melnikov sehr gerne einbinden und erwidert sie gleichermassen mit elastischem Spiel. Das Gesangliche des Adagios bleibt zwar etwas unterbelichtet, punkten kann Melnikov aber mit der perkussiven Brillanz des historischen Flügels. Passend als Ergänzung eine Cherubini-Ouvertüre, ein Gletscher-Drama aus den Schweizer Alpen mit Kuhreihen-Kolorit, passend weil es damals zusammen mit Brahms’ erstem Konzert gespielt wurde.

Reinmar Wagner

Brahms: Klavierkonzert Nr. 1 op. 15, Tragische Ouvertüre. Cherubini: Ouvertüre zu «Eliza ou Le Voyage aux Glaciers du Mont Saint-Bernard. Alexander Melnikov (Klavier), Sinfonieorchester Basel, Ivor Bolton. Harmonia Mundi 902 602


Überraschung mit Bach

3. überraschungSchon die erste Folge der Bachschen Cembalokonzerte mit dem italienischen Barock-Ensemble «il pomo d’oro» und dem Solisten Francesco Corti im letzten Jahr war eine kleine Sensation und eine pralle Ladung frischer Lebensenergie (Pentatone PTC 5186 837). Jetzt hat der Cembalovirtuose aus Arezzo die zweite Folge mit den Konzerten in D-Dur (BWV 1054), f-Moll (BWV 1056) und F-Dur (BWV 1057) nachgereicht und das selten gespielte «Tripelkonzert» für Cembalo, Flöte und Violine (BWV 1044) hinzugefügt: Und wieder überrascht uns die schmale, nur 7–9 Musiker starke Truppe mit ihrer unbändigen, rustikal-bodenständigen Musizierlust, die diese meist von anderen Konzerten adaptierten Arbeiten mit praller italienischer Lebensfreude und mit einer dunkel glühenden Farbenpracht ausstattet, und so dem solistisch agierenden Mini-Orchester fast die Führungsrolle zuweist, während das meist virtuos im Hintergrund glitzernde Cembalo rasantes rhythmisches Passagenwerk liefert.

Die heute übliche Übermacht des Solisten wird also durch das polyphone Räderwerk der tänzerisch beschwingten «Tomaten-Truppe» neu definiert und überzeugend korrigiert. Für das massive, erdige Bassfundament sorgt ein von Corti zusätzlich zum Kontrabass eingesetztes Fagott, wodurch die Gesamtbalance zwischen Solist und siebenköpfiger Begleitung (auch dank des präsenten Klangbildes) ein ganz neues aufregendes Profil erhält: Das Zimmermann’sche Kaffeehaus serviert heute starken Espresso.

Attila Csampai

Johann Sebastian Bach: Cembalokonzerte Vol.2 (Nr. 3, 5, 6; Tripelkonzert BWV 1044) Il pomo d’oro, Francesco Corti (Cembalo und Leitung) Pentatone PTC 5186 889


Musik aus den Schweizer Alpen

Die grosse romantische Sinfonie aus der Schweiz? Gibt es nicht, oder wenn, dann von Ausgewanderten wie Joachim Raff. Aber dank dem Sinfonieorchester Biel-Solothurn unter seinem entdeckungsfreudigen Chefdirigenten Kaspar Zehnder können wir nun doch einen dicken Pflock einschlagen, was die Gattung Sinfonie aus Schweizer Provenienz betrifft: Joseph Lauber, 1864 geboren in Ruswil bei Luzern, aufgewachsen in Le Locle, Schüler unter anderem von Massenet, vorerst Organist, dann Professor an den Konservatorien von Zürich und Genf, wo er auch Lehrer von Frank Martin war.

Seine ersten beiden Sinfonien, die hier eingespielt wurden, verraten eher wenig von der französischen Schule, sondern fussen mit erstaunlich sattelfester Souveränität in den deutschen Traditionen von Mendelssohn und Brahms, offenbaren aber immer wieder ein reizvolles alpenländisches Kolorit, das man sich sehr gut inspiriert vorstellen kann von der Bergwelt auf dem Maiensäss oberhalb von Bex, das diesem Gebirgsmenschen als sommerliches Refugium und «Komponierhäuschen» diente. Zudem spielt diese oft faszinierend schöne Musik gerne mit den Klangfarben der Bläser und erkundet ausgiebig die Möglichkeiten der spätromantischen Harmonik. Es gibt im 200 Werke umfassenden Œuvre dieses bisher Verkannten weitere vier Sinfonien – und ja, sie sollen von Kaspar Zehnder ebenfalls eingespielt werden.

Reinmar Wagner

Der Trailer zur Einspielung:

Joseph Lauber (1864-1952): Sinfonien Nr. 1 & 2 (Weltersteinspielung). Sinfonieorchester Biel-Solothurn, Kaspar Zehnder. Schweizer Fonogramm


Silbernes Zeitalter – Goldene Klavierkunst

3. TrifonovMit der Liszt-Doppel-CD «Transcendental» zeigte Daniil Trifonov vor vier Jahren unmissverständlich, dass er das Zeug zum Ausnahmepianisten hat. Da blieb selbst Martha Argerich die Spucke weg: «Er hat einfach alles, und noch mehr. Da ist eine solche Zärtlichkeit und gleichzeitig das teuflische Element.» Beides (und noch einiges mehr) ist auch auf seiner jüngsten Veröffentlichung «Silver Age» zu erleben. Und was für ein Erlebnis! Allein die Werkzusammenstellung hat es in sich – ausschliesslich Musik von russischen Komponisten, die in der einen oder anderen Weise mit Sergej Diaghilew und den «Ballets Russes» verbunden waren: Strawinsky, Prokofjew und Skrjabin. Unnachahmlich, wie Trifonov die drei Sätze aus «Petruschka» spielt, fast etwas «hölzern» im Klang wie der Puppenmann selber, unglaublich virtuos und gleichzeitig lustvoll verspielt. In der achten Sonate von Prokofjew hat Trifonov selbst den eminenten Sviatoslav Richter nicht zu fürchten. Und in Prokofjews zweitem Klavierkonzert hat er als ernstzunehmende Konkurrenz nur den anderen grossen Russen zum Gegner: Evgeny Kissin. Dass Trifonov zudem auch Repertoire-Raritäten bietet, etwa das Klavierkonzert von Skrjabin oder eine kurze Klaviersuite aus Strawinskys «Feuervogel»-Ballett sowie dessen kaum je zu hörende viersätzige Klavier-Serenade – das alles macht diese Veröffentlichung zu einem einzigartigen Ereignis.

Werner Pfister

«Silver Age». Daniil Trifonov (Klavier), Mariinsky Orchester, Valery Gergiev.

Deutsche Grammophon 4835331


Schubert aus Basel

Holliger SchubertSeit drei Jahren erkundet Heinz Holliger zusammen mit dem Kammerorchester Basel die Sinfonien von Franz Schubert. Ihre vierte Einspielung umfasst mit der Zweiten und Dritten zwei frühe Sinfonien Schuberts, die man lange eher als «Jugendsünden» abgetan hat. Klar, dass Holliger das anders sieht und diese originellen, vor Einfällen sprühenden Kunstwerke nicht nur überaus ernst nimmt, sondern ihnen auch gleich einen Spiegel unserer Zeit vorhält. Typisch für Holliger ist der tiefe Blick auf die brüchigen Seiten in Schuberts Werk, und ein ganz besonderes Flair beweist er für die ständigen Wechsel von Hell und Dunkel, Dur und Moll, die so kennzeichnend ist für Schuberts Musik. Auch im Misstrauen allem Plakativen und Vordergründigen gegenüber, im Hinterfragen des Einfachen ist sie deutlich zu spüren, die Haltung von Heinz Holliger. Wie wenig andere Musiker findet er auf Schritt und Tritt Anlass zu eigenen Akzenten, überraschenden Tempo-Relationen oder setzt auch einfach nur auf einen grossen Variantenreichtum, der diese Musik auflädt mit Spannung und Intensität. Und wer denkt, dass solch intellektuelle Durchdringung der Emotionalität dieser Sinfonien oder dem musikantischen Drive ihrer tänzerischen Sätze im Weg steht, wird etwa im Presto-Finale der Dritten eines besseren belehrt: in rasendem Tempo, mit knackig-schroffen Akzenten und unermüdlicher Energie spornt Holliger die Kammermusiker zu einem wahren Höllenritt an.

Reinmar Wagner

Schubert: Sinfonien Nr. 2 & 3, Ouvertüren zu «Alfonso und Estrella» und «Des Teufels Lustschloss». Kammerorchester Basel, Heinz Holliger. Sony 90758 14422


Lebendig und Leichtfüssig

3. SchumannFrancois-Xavier Roth ist einer interessantesten Dirigenten unserer Zeit: Mit seinem 2003 gegründeten Orchester «Les Siècles» hat er die Vorstellung «authentischer» Klangbilder konsequent auch auf Werke des 19. und 20. Jahrhunderts übertragen. Von seiner völlig neuen, hochdifferenzierten Klangregie profitiert seit 2015 auch das Kölner Gürzenich-Orchester, das er zu einem unglaublich transparenten Ensemble geformt hat: Nach zwei Mahler-Sinfonien hat er jetzt auch die beiden zuerst entstandenen Sinfonien Schumanns im hochauflösender DXD-Technik eingespielt, nämlich die Erste und die Urfassung der Vierten, die beide 1841 entstanden. In beiden Werken glänzt der 48jährige Franzose als Meister einer geradezu kammermusikalisch inspirierten, hypertransparenten Orchesterpolyphonie, die Schumanns komplexe kaleidoskopische Klangregie ungemein lebendig und leichtfüssig ausleuchtet, sodass gerade die in der späteren Version schwerfällig instrumentierte Vierte hier wie eine frisch sprudelnde Quelle jugendlicher Lebensfreude und choreographischer Anmut daherkommt, und ihren Schöpfer wieder ganz in die Nähe Beethovens und Mendelssohns rückt. Roths französische Eleganz, seine feine Poesie und schlanke Farbenpracht befreien Schumann endgültig vom Verdikt eines deutschen Schwerenöters und übertreffen sogar John Eliot Gardiners neue Einspielung an Frische, drängendem Lebenspuls und Klang-Raffinesse.

Attila Csampai

Schumann: Sinfonien Nr. 1 & 4. Gürzenich-Orchester Köln, Francois-Xavier Roth. Myrios MYR 028 (SACD)


Spätbarocker Verzierungskünstler

53543_2_Tartini_0Von Giuseppe Tartini (1692–1770) kennt man heute nur die sogenannte «Teufelstriller-Sonate», die ihm laut einer Legende der Teufel selbst im Traum vorgespielt haben soll. Dabei hat der lange in Padua wirkende Geiger und Komponist 160 Violinkonzerte, 135 Violinsonaten und vieles mehr verfasst und galt zu Lebzeiten als einer der führenden Theoretiker des barocken Violinspiels. Jetzt haben Italiens Originalklang-Guru Andrea Marcon, sein Venice Baroque Orchestra und die französische Barockgeigerin Chouchane Siranossian fünf weitgehend unbekannte Violinkonzerte Tartinis ausgegraben und so eindringlich wiederbelebt, dass man sich wundert, warum diese spätbarocken Konzert-Juwelen so lange im Dunkeln darben mussten. Ihre Auswahl spiegelt auch Tartinis fast 50 Jahre währende stilistische Entwicklung, die durch seine besondere Vorliebe für spieltechnische Raffinessen wie Triller, Schnörkel, Läufe etc. geprägt war. Man staunt, mit welcher spielerischen Leichtigkeit und Anmut Siranossian Tartinis Verzierungsorgien, aber auch seine reiche musikalische Fantasie in lupenreine, fliessende Klangrede verwandelt, dabei in den langsamen Sätzen auch atmosphärischen Zauber erzeugt – so dass man sich augenblicklich zurückversetzt fühlt in das milde Kerzenlicht jener Zeit.

Attila Csampai

Giuseppe Tartini: Fünf Violinkonzerte. Chouchane Siranossian, Barockvioline; Venice Baroque Orchestra, Andrea Marcon. Alpha 596


Geigerisches Ping-Pong-Spiel

ClementEine musikalisch gewichtige Entdeckung im Umkreis von Beethoven bieten die Geigerin Mirijam Contzen und der Dirigent Reinhard Goebel: Sie haben zwei Violinkonzerte von Franz Joseph Clement ausgegraben. Das ist nicht nur bemerkenswert, weil es sich dabei um zwei bisher völlig unbekannte, aber überaus charmante und musikalisch reizvolle, für eine kundige Geigerhand auch sehr dankbare und virtuose Konzerte handelt, die zudem auch nach allen Regeln der Kunst hier vollendet interpretiert werden. Sondern auch, weil dieser Wiener Geigenvirtuose ein enger Freund Beethovens war, insbesondere auch der Widmungsträger von dessen berühmtem Violinkonzert – die launische Widmung «per clemenza per Clement» ist in Erinnerung geblieben. Aber die musikalische Verzahnung zwischen Beethovens Konzert und den beiden Werken von Clement geht viel weiter: Deutlich hörbar haben sie sich gegenseitig beeinflusst. Das erste Konzert von Clement von 1805 lieferte Beethoven nicht nur zahlreiche Inspirationen für sein wenig später vollendetes einziges Violinkonzert, sondern animierte ihn auch zu deutlichen musikalischen Kommentaren und manchmal augenzwinkernden Anspielungen. Eine Vorlage, die der Kollege Clement bereitwillig aufnahm und in seinem zweiten Konzert wiederum mit gleicher Münze zurückzahlte – aber es auf Augenhöhe auch schaffte, neue Ideen einzubringen, die Beethoven wiederum hätten herausforden können. Kompositorisches Ping-Pong-Spiel unter Kollegen sozusagen – schade dass Beethoven sich nie zu einer musikalischen Antwort aufraffen konnte.

Reinmar Wagner

Franz Clement: Violinkonzerte Nr. 1&2. Mirijam Contzen (Violine), WDR Sinfonieorchester Köln, Reinhard Goebel.
Sony  19075929632


Staunenswert, ausgefeilt und tieflotend

3. paderewskiAls Gewinnerin des Ersten Preises sowie des Mozart-Preises beim Concours Géza Anda 2018 kam Claire Huangci in die Schlagzeilen des Musikfeuilletons. Kein Zweifel, die knapp 30-jährige Pianistin verdient Aufmerksamkeit. Denn ihre Pianistik ist ebenso staunenswert ausgefeilt und tieflotend wie ihr stilistisches Empfinden. Auf ihrer neuen Einspielung wartet sie gar mit einer Überraschung auf: mit dem Klavierkonzert op. 17 von Paderewski. Musik, die weitab von nur hohlem Geklingel ist; Musik also, die durchaus Substanz hat – wenn man sie denn zu meistern vermag. Claire Huangci greift in die Vollen, spart nicht mit virtuosem Zugriff – als würde sie mit der Pranke Paderewskis spielen. Das begleitende Orchester lässt sich von so viel Temperament hörbar inspirieren und spielt mit bemerkenswertem Engagement. Besonders schön im zweiten Satz die kammermusikalischen Solostellen mit Klavier, Violine und Cello – das erinnert von ferne an den zweiten Satz von Tschaikowskys zweitem Klavierkonzert. Aber auch Rachmaninow steckt in Paderewskis Musik – und zuweilen ein Anklang an Mozart. Das erste Chopin-Konzert hat es da schwieriger: Zu erdrückend ist die Konkurrenz, vor allem auch, was die Orchesterbegleitung anbelangt, die hier doch etwas gar pauschal und wenig klangsensibel ausfällt. Aber Claire Huangci zeigt sich auch hier auf der Höhe ihrer Interpretationskunst und präsentiert insgesamt einen betont feinfühligen Chopin

Werner Pfister

Paderewski: Klavierkonzert a-Moll op. 17; Chopin: Klavierkonzert Nr. 1 e-Moll. Claire Huangci (Klavier), Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern, Shiyeon Sung.
Berlin Classics 0301096


Clara Schumann im Konzert

1. Madame SchumannVor 200 Jahren wurde Clara Schumann in Leipzig geboren; ihr Vater, ein perfekter Klavierpädagoge, bildete sie früh zum Wunderkind aus. Sicher war es beides, das Wunder und das Kind, das Robert Schumann, ebenfalls Klavierschüler bei Claras Vater Friedrich Wieck, für das Mädchen einnahm. Aber es sollte Jahre dauern, bis er sie – letztlich gegenüber dem künftigen Schwiegervater gerichtlich erzwungen – zur Frau nahmen konnte. Sie blieb, als Klaviervirtuosin ersten Ranges, in der tonangebenden Gesellschaft berühmter als ihr komponierender Gatte, der sich oft hintangestellt fühlte und seinen Trost im Alkohol suchte. Die vorliegende Doppel-CD lässt zwei originale Konzertprogramme von Clara Schumann noch einmal aufleben. Im ersten hört man Roberts Klavierquintett op. 47 an der Seite von Claras Klaviertrio op. 17 – und staunt dann doch: grossartige Musik, raumgreifende Romantik und ein virtuoser Clara-Klavierpart. Die zweite CD lässt ihren letzten Klavierabend in England wieder aufleben. Beethovens Waldstein-Sonate, Scarlatti, Gluck (in einer Bearbeitung von Brahms, ihrem lebenslangen jüngeren Verehrer) – und wie es in damaliger Zeit üblich war, wird zwischen den einzelnen Werken mit Modulationen und Improvisationen ein «nahtloser Übergang» geschafft. Das alles zeugt vom historisch orientierten Bewusstsein dieser CD-Veröffentlichung, die uns noch einmal in die Welt Claras eintauchen lässt, selbstredend auf heutigen Instrumenten.

Werner Pfister

«Madame Schumann»: 2 originale Konzertprogramme von Clara Schumann. Ragna Schirmer (Klavier), Kammermusiker.

Berlin Classics 0301194BC


Nicht zu toppen

2. OttensamerDass Andreas Ottensamer ein absolutes Ausnahmetalent unter den bedeutenden Klarinettisten ist, hat sich längst herumgesprochen. Und was immer für Musik er sich vornimmt, scheint er mit seinen ungemein subtilen, weich melancholischen Klarinettentönen gleichsam in Gold zu verwandeln. Auch diesmal auf seinem neuesten Album «Blue Hour». Das ist einerseits der Glücksfall, das f-Moll-Klarinettenkonzert von Weber mit «seinem» Orchester, den Berliner Philharmonikern, wo Ottensamer seit Jahren als Solokarinettist mitwirkt, aufführen zu können, und das erst noch unter der Leitung von Mariss Jansons. Der Live-Mitschnitt zeigt es: Hier wird Weber-Romantik in Reinkultur zelebriert. Es hiesse, Eulen nach Athen zu tragen, würde man die ungewöhnliche technische Souveränität Ottensamers ein weiteres Mal loben. Verblüffend ist sie dennoch. Und verblüffend sind andererseits auch die Stücke, die er mit Yuja Wang am Flügel eingespielt (und zum grössten Teil auch selbst für sein Instrument bearbeitet) hat: Lieder ohne Worte von Mendelssohn sowie dessen extrem schwieriges Grand Duo concertant. Die beiden musizieren das derart eindringlich, dass man sich gar nicht nach den Originalfassungen für Klavier zurücksehnt. Indes, der eigentliche Höhepunkt – allerdings ein sehr stiller, abgeklärter, fast resignativer – findet am Anfang des Albums statt mit dem A-Dur-Intermezzo op. 118/2 von Brahms. Man kann sich kaum satthören, so wunderbar weich abgeschattet, edel und vornehm klingt das.

Werner Pfister

«Blue Hour», Andreas Ottensamer (Karinette), Yuja Wang (Klavier), Berliner Philharmoniker, Mariss Jansons. DG 4836069


Reizvolle Fülle an Details

3149sstephanieWir kennen sie als versierte, agile Barocksängerin – und sie ist nach wie vor eine Stütze in den Ensembles von Christie, Haïm oder Minkowski, aber die französische Mezzosopranistin Stéphanie d’Oustrac hat unterdessen auch im romantischen Repertoire Fuss gefasst, und das spektakulär als Carmen oder Cassandra in Berlioz‘ «Les Troyens». Das Berlioz-Jahr animierte sie nun für ihre erste Aufnahme bei Harmonia Mundi dessen Liederzylus «Les Nuits d’été» einzuspielen, nicht in den bekannten Orchesterfassungen, sondern mit Pascal Jourdan als Pianisten. Fast scheint es, als wollten die beiden bewusst ihre intime Besetzung noch akzentuieren: Alles Orchestrale wird vermieden, das Klavier verschwindet manchmal beinahe, und auch die Sängerin durchbricht die Melodielinien gerne mit unerwarteten Akzenten, dynamischen und stimmlichen Kontrasten, deutlichen Farbschattierungen oder sprachlichen Betonungs-Finessen. Insgesamt eine Fülle an reizvollen Details, die bisweilen allerdings ein wenig manieriert wirken können. Dasselbe Bild zeigt sich in Wagners «Wesendonck-Liedern», wobei die deutsche Sprache bemerkenswerterweise keine grosse Klippe darstellt für die Sängerin aus Rennes. Interessant ihre Auswahl an Liedern von Franz Liszt, die man seltener hört, und die d’Oustrac hier mit viel dramatischem Pathos auflädt, sich bisweilen aber auch eher unschöne stimmliche Schärfen zuschulden kommen lässt.

Reinmar Wagner

Tonbeispiele:

Berlioz: Les Nuits d’été, Villanelle

Liszt: Es war ein König in Thule

Wagner: Wesendonck-Lieder, Der Engel

Berlioz: «Les Nuits d’été», «La Mort d’Ophélie», Wagner: «Wesendonck-Lieder», Lieder von Liszt. Stéphanie d’Oustrac (Mezzosopran), Pascal Jourdan (Klavier). Harmonia Mundi 902621


Windumtoste Italienreise

3. Berlioz Roth KopieDa muss man doch gleich zweimal hinhören: Ein Bariton in den «Nuits d’été» von Berlioz? Dabei haben Stéphane Degout und François-Xavier Roth das Recht der Historie auf ihrer Seite: Berlioz schrieb seinen Liederzyklus keineswegs ausdrücklich für Mezzosopran, wie wir das heute gewohnt sind zu hören, sondern für verschiedene Stimmlagen. Also kann sich auch ein Bariton mit gutem Gewissen darin versuchen. Degout beweist durchaus Geschmack und stimmliche Agilität in diesen sechs lyrischen Stimmungsbildern, sein Timbre allerdings ist vor allem in den dynamisch stärkeren Passagen manchmal etwas rau, und sein Gesang wirkt dadurch draufgängerischer als man das gewohnt ist. Aber von Gewohnheiten sollte man eh absehen bei dieser Einspielung. Fançois-Xavier Roth und sein französisches Orchester «Les Siècles» sind einer deutlich historisierenden Musizierweise verpflichtet, demonstrierten schon in den Orchesterwerken Ravels, wie aufregend sie klingen können, und beweisen es bei Berlioz erneut. Tabea Zimmermann, die sich mit Wachheit und Neugier auf diese Klangfarben einlässt, zeigt ihrerseits mitreissend, wie differenziert und vielseitig das Bratschensolo in «Harold en Italie» klingen kann. Dass Berlioz so etwas für Paganini geschrieben hat, versteht man immer noch nicht, aber dieser naturnahen, lebensfrohen, windumtosten Italien-Reise hört man umso lieber zu. Ein Interview mit François-Xavier Roth erscheint in der nächsten Ausgabe von «Musik & Theater».

Reinmar Wagner

Berlioz: «Harold en Italie», «Les Nuits d’Été». Tabea Zimmermann (Viola), Stéphane Degout (Bariton), Les Siècles, François-Xavier Roth. Harmonia Mundi 902 634


Die nackte Wahrheit

2. Schubert

Keine Frage, dass Schuberts letzte drei Klaviersonaten, die er zwei Monate vor seinem Tod vollendete, zu den Gipfelwerken der Gattung zählen: Aber nur wenige Pianisten vermochten deren unglaubliche innovative Substanz und das Ausmass des Tragischen überzeugend umzusetzen, da die meisten, unter dem Eindruck von Schuberts äusseren Lebensumständen, das Fiebrig-Kränkelnde, Depressiv-Verhangene und die lähmende Todesnähe in den Vordergrund rückten. Auch der heute 58jährige Alexander Lonquich unterstreicht im Booklet-Text seiner neuen, schlackenlos klaren Einspielung der Trias deren «betont erzählerischen Charakter» und deutet sie als «fortlaufende Geschichte eines einzigen Romans», und dennoch durchleuchtet er ihre strukturelle Komplexität, ihre harmonischen Kühnheiten und emotionalen Abgründe mit Beethovenscher Rigorosität und einer dem Kompositionsprozess folgenden nackten Klarheit und Stringenz, die diese letzten Arbeiten als Manifeste visionärer Modernität und einer mit neuen Inhalten gefüllten Wahrhaftigkeit ausweisen: Lonquichs faszinierende Anschlagskultur, sein perfektes, flexibles timing, seine schlackenlose Prägnanz und sein dramatisch geschärfter, stets plausibler Erzählstrom enthüllen die tiefe Trost- und Ausweglosigkeit dieser Werke in ungeschützter, entblösster Klarheit und verweigern entschieden jede Spur von falscher Gefühligkeit: Das ist fesselnd und erschütternd zugleich.

Attila Csampai

Schubert: Klaviersonaten D 958, 959, 960; Drei Klavierstücke D 946. Alexander Lonquich, (Klavier). Alpha 430 (2 CD)


Trifonov at his best

4. TrifonovDarauf haben die Fans von Daniil Trifonov sehnlichst gewartet: dass er sich den Klavierkonzerten Rachmaninows annehmen würde. Nun liegen die Nummern 2 und 4 vor, dazu eine von Rachmaninow erstellte dreisätzige Suite aus Bachs Soloviolin-Partita in E-Dur – dies übrigens ein besonderes Schmuckstück dieser CD. Die beiden Klavierkonzerte geht Trifonov alles andere als pauschal an. Im zweiten betont er den eher klassischen Zuschnitt des Werks. Lyrische Kantilenen – und davon gibt es viele – spielt er mit wunderbar sensibler Klangfantasie aus, und das Philadelphia Orchestra unter der kongenialen Leitung von Yannick Nézet-Séguin tut es vor allem in den vielen Violin- und Cello-Kantilenen ebenso hinreissend, aber nie schwülstig oder aufdringlich. Herrlich auch das sozusagen tief in die Musik versunkene Zwiegespräch zwischen dem Klavier und einzelnen Bläsersolisten. Hier wird evident, wie perfekt Dirigent und Pianist miteinander harmonieren. Im vierten Klavierkonzert werden andere Töne angeschlagen – modernere, manchmal gar mit den Jazz liebäugelnde. Gelegenheit zum Schwelgen gibt es hier nicht mehr so üppig, dafür aber kann Trifonov seine fingerflinke Virtuosität mit wahrlich akkordischem Aplomb ins beste Licht rücken. Und auch das Orchester scheint hier ganz besonders in seinem Element zu sein. Fazit: Wir warten sehnlichst auf die Klavierkonzerte Nr. 1 und 3.

Werner Pfister

Rachmaninow: Klavierkonzerte Nr. 2 & Nr. 4, Suite aus Bachs BWV 1006. Daniil Trifonov (Klavier), Philadelphia Orchestra, Yannick Nézet-Séguin. DG 00288 483 5335


Farbiges Musikmärchen

1_Schoeck«Manntje, Manntje, Timpe Te, Buttje, Buttje in der See» – auf plattdeutsch vertonte Othmar Schoeck die Märchenparabel «Vom Fischer un syner Fru». Er schrieb diese dramatische Kantate («Operchen» nannte Schoeck das Werk selber liebevoll) 1928–1930 mit grosszügiger Unterstützung des Winterthurer Musikmäzens Werner Reinhart. Die Uraufführung kam 1930 in Dresden zustande, aber schon im Jahr darauf erklang das Werk auch in Winterthur. Naheliegend also, dass das Musikkollegium das Stück in seine Programme aufnahm, und naheliegend auch, als Dirigenten Mario Venzago zu engagieren, der sich mit dem Werk von Othmar Schoeck schon lange und intensiv beschäftigt – kürzlich in Bern etwa auch die Oper «Das Schloss Dürande» vom Stigma der Nazi-Ideologie zu befreien versuchte. Das Grimm-Märchen ist in dieser Hinsicht unverdächtig, aber es ist überaus beeindruckend, zu hören, wie Schoeck mit dem Orchester zaubert, wie er impressionistische Farben für die Meeres- und Sturmstimmungen entfaltet, wie er expressive Klänge für das übersinnliche Fischwesen findet, wie er psychologisch interessant die Emotionen des Fischerpaars schildert, von der zunehmenden Beklemmung des Mannes und der kurzen Freude der beiden über die immer prächtigeren Häuser und Titel bis hin zur gierigen Unzufriedenheit der Frau, die ihren Mann immer von Neuem ans Meer schickt, um noch mehr zu verlangen, bis am Ende bekanntlich die beiden wieder in ihrer armseligen Hütte hocken. Venzago und die Winterthurer Musiker erzählen das alles mit viel klanglicher Raffinesse, und mit Rachel Harnisch füllt zudem eine wunderbare Sängerin die Rolle dieser Frau bis in alle Facetten, während Jürg Dürmüller nicht minder überzeugend den Fischer singt und beim profunden Bass von Jordan Shanahan der Butt ebenfalls bestens aufgehoben ist.

Reinmar Wagner

Schoeck: «Vom Fischer un syner Fru». Rachel Harnisch, Jürg Dürmüller, Jordan Shanahan, Winterthurer Musikkollegium, Mario Venzago. Claves 50-1815.


Empfindsamer Engelsgesang

Kaum ein Geiger von Rang liess Mendelssohns Violinkonzert links liegen: 3760014194108Die Diskographie quillt schier über, und ist gespickt mit zeitlosen Referenzen wie Heifetz, Milstein und anderen. Und trotzdem gelingt es jungen Interpreten immer wieder, dieses Gipfelwerk der Genres neu zu beleben, ihm neue Facetten abzugewinnen. Wie jetzt der exzellenten französischen Geigerin Chouchane Siranossian, die dieses reife Opus Mendelssohns nun in der seltenen Erstfassung von 1844 und «historisch orientiert» eingespielt hat, was dessen lyrischen, märchenhaft-schwebenden Grundcharakter viel deutlicher hervortreten lässt als die bisher dominierenden virtuosen Lesarten. Ihr vibratoarmes, mit Flageolets und feinen Portamenti durchsetztes Spiel wirkt auf eine sehr charmante Weise altmodisch und empfindsam, und zugleich ungemein frisch, beseelt und impulsiv, so dass sie mit dem ähnlich befreit und knackig aufspielenden Solistenkollektiv von Anima Eterna Brugge sich in wunderbar fliessende und pulsierende Dialoge verstrickt, und so das enorme dramatische und spirituelle Potenzial dieses Engelsgesangs in seiner ganzen keuschen Schönheit neu aufblühen lässt. Im anschliessenden Es-Dur-Oktett des 16jährigen Mendelssohn fügt sie sich perfekt ein in die ähnlich impulsreiche und ungemein lebendige Interaktion von sieben Topsolisten des Anima Eterna Orchesters und hebt es mit ihnen in den Rang eines frühen «sinfonischen» Meisterwerks.

Attila Csampai

In Time – Mendelssohn: Violinkonzert e-moll; Oktett Es-dur op.20. Chouchane Siranossian (Violine) Anima Eterna Brugge, Jakob Lehmann. Alpha 410


 

Zimerman jazzt

Ein Vergleich dieser Neueinspielung der zweiten Sinfonie Bernsteins «The Age of Anxiety» unter Sir Simon Rattle und mit Krystian Zimerman am Flügel mit Bernsteins eigener Einspielung (mit Lukas Foss) zeigt zumindest eines: dass der Komponist nicht unbedingt der ideale Interpret seiner eigenen Werke ist.

Unter Sir Simon Rattle entfaltet sich Bernsteins sinfonisches Konglomerat weit emphatischer und farbenprächtiger, was sicher auch den Berliner Philharmonikern zu verdanken ist. Jedes Detail erhält seine adäquate Ausformung, und über das heterogene Ganze vermag Rattle sogar einen grossen, stimmigen Bogen zu spannen. Krystian Zimerman spielte das Werk bereits unter Bernsteins Leitung, man darf seine Interpretation füglich als eine «aus erster Hand» bezeichnen. Und was für Hände hat Zimerman! Einmal mehr fasziniert dieser Pianist, und das auch, wenn er im fünften Satz der Sinfonie derart voll drauflos jazzt, dass es eine reine Wonne ist. Natürlich wäre Zimerman nicht Zimerman, wenn er nicht auch in dieser Musik in jedem Takt ihren künstlerischen Ernst mitbedenken würde. Und genau das ist es letztlich, was die Interpretation so spannend macht, dass man ihr gebannt zuhört und sich von Bernsteins Musik recht eigentlich vereinnahmen lässt. Was gibt es Besseres?

Werner Pfister

Bernstein: Sinfonie Nr. 2 «The Age of Anxiety». Krystian Zimerman (Klavier), Berliner Philharmoniker; Dirigent: Sir Simon Rattle. DG 483 5539


Tiefgründiger Liszt

Die zupackende Show-Geste, die schillernde Virtuosen-Pranke, das ist ganz und gar nicht die Sache des Pianisten Francesco Piemontesi. So klingt sein Liszt denn auch angenehm unaufgeregt, ernsthaft, hinterfragend und tiefgründig.

Mit viel Nuancenreichtum und hoher Anschlagkultur findet der Tessiner in den musikalischen Schweizer Bildern des reisenden Franz Liszt ungewohnt verinnerlichte und poetische Farben, aber auch klare und reflektierte Interpretationslösungen, die eine grosse Überzeugungskraft entwickeln, ganz ohne demonstrativ daher zu kommen. Selbst stürmische Naturschilderungen oder das Rieseln der Quelle verführen Piemontesi nicht zu vordergründigen Illustrationen, sondern lassen bei aller pianistischen Souveränität stets eine reflexive Dimension offen.

Er sucht nicht die musikalischen oder pianistischen Extreme, obwohl er sie auch durchaus im richtigen Moment gekonnt einzusetzen weiss, aber gerade in der bewussten Dosierung und in der zielgerichteten Genauigkeit entfalten seine Interpretationen ihre suggestive Kraft. Dasselbe gilt für die zweite der «Deux Légendes», gewidmet dem Heiligen Franz von Paola, in denen der nun deutlich ältere Abbé Liszt seinen beiden geistlichen Leitfiguren pianistisch noch persönlicher huldigt als in seinen durchaus pittoresken Postkartenbildern. Schön unaufgeregt auch, wie Bruno Monsaingeon in der beigelegten DVD Franceso Piemontesis Reise zu Liszt filmisch eingefangen hat.

Reinmar Wagner

Liszt: Années de pèlerinage, première année «Suisse», Deux Légendes Nr. 2. Francesco Piemontesi (Klavier). Orfeo C944 182 I (CD & DVD)


Ein vergessenes Genie 

Anton Zimmermann (1741-1781) stammte aus Schlesien und wurde in den 1770er Jahren zu einem der innovativsten Köpfe der Wiener Vorklassik. In Pressburg formte er die Hofkapelle des ungarischen Fürsterzbischofs Graf Batthányi zu einem der besten Orchester Europas. Fast 300 Werke sind vzimmermannon ihm überliefert, darunter 40 Sinfonien, und einige davon wurden sogar Joseph Haydn zugeschrieben. Jetzt hat einer der großen Pioniere der deutschen Originalklangszene, Werner Ehrhardt, auch dieses vergessene Genie wiederentdeckt und mit seinem 2005 gegründeten Ensemble „l’arte del mondo“ drei seiner spektakulärsten Sinfonien als Weltpremiere eingespielt.

Alle drei Arbeiten ragen wie Unikate eines geradezu rebellischen Erfindungsreichtums und wie schrille Alarmglocken einer entfesselten Sturm-und-Drang-Motorik aus dem Mainstream der höfisch-diskreten frühen Klassik, und sie lassen uns ahnen, welche unglaublichen kreativen Kräfte da in jenen Jahren des Umbruchs auch im Umfeld Haydns und Mozarts am Werk waren: Alle drei Sinfonien strotzen vor neuen Ideen, stilistischen und formalen Experimenten, und weisen auch in ihrer Dramatik und in der Vielfalt kontrastierender Tonfälle weit in die Zukunft. Bei Zimmermann erweist sich der musikalische Kontext als unberechenbar, als diskontinuierlich, und Ehrhardt und seine hochmotivierte 25köpfige Truppe legen sich energisch und lustvoll ins Zeug, um uns den revolutionären Puls dieser Musik unmittelbar erleben zu lassen: Dieses Album ist daher weit mehr als eine „Entdeckung“ , es ist eine echte Sensation.

Attila Csampai

Anton Zimmermann: Symphonien in e-moll, B-dur, c-moll. L’arte del mondo, Werner Ehrhardt. dhm/Sony 19075851632 (CD)