Riccardo Chailly dirigiert Mendelssohn und Wagner beim Lucerne Festival

Im neu konzipierten Programm des Lucerne Festivals hat eine Frühlings-Residenz des eigenen Orchesters unter dessen Chefdirigenten Riccardo Chailly die früheren Osterfestspiele abgelöst. Für die erste Ausgabe über das verlängerte Palmsonntag-Wochenende stellte Chailly die Sinfonien von Mendelssohn ins Zentrum und konfrontierte sie mit Musik seiner Zeitgenossen. Im ersten Programm vom Freitag mit Richard Wagner.

Riccardo Chailly dirigiert Mendelssohn © Priska Ketterer / Lucerne Festival

Ganz klar, wer da von wem geklaut hat: Riccardo Chailly stellte mit voller Absicht Wagners «Parsifal»-Vorspiel vor Mendelssohns «Reformationssinfonie». Denn beide Stücke verwenden an zentralen Stellen ein gemeinsames Motiv. Mendelssohns Sinfonie entstand schon 1829/30, Wagner schrieb seinen «Parsifal» erst 1880. Klarer Fall also, wer da bei wem abgeschrieben hat.

Oder doch nicht? Geklaut haben sie nämlich beide, bei jenem «Dresdner Amen», das ab Mitte des 18. Jahrhunderts in der katholischen Hofliturgie als chorische Bekräftigung Eingang fand, und bald in ganz Sachsen auch in den lutherischen Kirchen sehr gerne gesungen wurde. Die kurze, schlichte, aufsteigende Melodie war also weitherum bekannt, und sowohl Mendelssohn wie Wagner benutzten sie als Zitat, um religiöse Feierlichkeit in ihrer Musik auszudrücken. Nicht als Einzige: Auch bei Louis Spohr oder Bruckner findet sich dieses Motiv, und Gustav Mahler macht es in seiner ersten Sinfonie zur Chiffre für die Überhöhung seines «titanischen» Helden. Richard Wagner, der als Chorknabe im Dresdner Kreuzchor schon früh mit diesem musikalischen Motto vertraut wurde, verwendete es schon vor dem «Parsifal» im «Liebesverbot» und im «Tannhäuser».

Die Kontrabässe in Aktion © Priska Ketterer / Lucerne Festival

Auch Mendelssohn zitiert das bekannte Motiv ganz gezielt als religiöses Signal, ebenso wie den Luther-Choral «Ein feste Burg ist unser Gott». So weit, so bekannt. Weniger vertraut waren andere Passagen am Luzerner Konzert: Chailly präsentierte nämlich die Erstfassung dieser – chronologisch zweiten – Sinfonie von Mendelssohn, die aber in dieser Version bei der geplanten Uraufführung in Paris von den Musikern abgelehnt wurde. Mendelssohn reagierte mit einer doch recht umfassenden Bearbeitung, in der die «Reformationssinfonie» schliesslich bekannt wurde. In der Erstfassung wirkt Vieles blockhafter und etwas kantiger, die fugierten Abschnitte treten konkreter hervor. Und vor dem Luther-Choral steht eine lange Flötenkadenz, die Jacques Zoon, seit 20 Jahren eine Referenz im Lucerne Festival Orchestra, mit solistischer Prägnanz und stilistischem Feingefühl spielte.

Das Orchester präsentierte sich auch sonst wie in guten alten Zeiten. Aus Abbados Besetzung sind noch etliche der tragenden Säulen mit dabei, neben Zoon etwa Reinhold Friedrichs strahlende Trompete oder die Oboe von Lucas Macias Navarro. Und so wie diese Musiker das «Parsifal»-Vorspiel in den KKL-Saal zauberten, hätte man fast denken können, Claudio Abbado stehe noch am Pult: Sehr feierlich, sehr getragen, sehr zart und klanglich sensibel: Ein weltentrücktes, mystisches Ritual.

Regenbogen vor dem Konzert über dem KKL. Das zweite Konzert wurde zum Benefizkonzert für die Ukraine. © Priska Ketterer / Lucerne Festival

Aber natürlich hat Chailly sein eigenes Temperament: Das Vorspiel zum dritten «Lohengrin»-Aufzug nach der Pause liess er mit schmetternden Hörnern gegen den Auftritts-Applaus anbranden, voll Power und überschäumender Festfreude. Die Volksmelodien in der «Schottischen» klangen nach munteren Dorfmusikanten, der Meeressturm wurde zur suggestiven sinfonischen Dichtung und auch das Allegro vivace der «Reformationssinfonie durfte in burschikoser Übermütigkeit abschnurren. Da war zu spüren, dass Mendelssohns musikalische Welt gar nicht so weit von jener eines Gioacchino Rossini entfernt ist, und dass Chailly ein Musiker ist, der gerne auch die grosse Geste und die üppige Klangpracht zulässt.

Ohne zu übertreiben freilich: Ausgewalzt und breitgetreten wird hier nichts, Rubati bleiben im Rahmen des Gepflegten, die dynamischen Pegel entspannen sich nach Akzentschlägen und Fortissimo-Phasen so rasch wie sie aufgebaut worden sind. Man kann rhythmisch zweifellos noch präziser spielen, daran merkt man, dass dieses Orchester, so illuster es besetzt ist, nicht dauernd zusammen arbeitet. Aber Mendelssohn auf diese im besten Sinne musikantische Weise zu hören, war die Reise nach Luzern auf jeden Fall wert.

Reinmar Wagner

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