Majestätisch, unerbittlich, gleichgültig.

Die berühmteste Nordwand der Alpen als Opernsujet: Das Bergsteiger-Drama am Eiger von 1936 kam in Biel auf die Bühne, komponiert von Fabian Müller auf ein Libretto von Tim Krohn.

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© Suzanne Schwiertz / TOBS

Bergbeiz: Die einen rühren im Fondue, die anderen wärmen sich am Kaffee. Alpinisten, Spaziergänger oder Skifahrer, man sieht’s an den Schuhen. Die sind von heute, genauso wie die Funktionsjacken und Sonnenbrillen. Aus einem Lautsprecher dudelt Ländler, die Serviertochter ist aufmerksam und bringt dem älteren Bergler, der gedankenverloren in einem Foto-Album blättert, das nächste Glas Wein. Manchmal zücken alle die Ferngläser: Es gibt Action in der Eigernordwand.

Das war damals nicht anders, 1936. Die 1800 Meter hohe Wand des Fast-Viertausenders stellte eines der letzten grossen Hindernisse im alpinen Klettern dar. Etliche Versuche waren gescheitert, die meisten tödlich. Jetzt standen gleich zwei Zweier-Seilschaften bereit, den Einstieg zu wagen. Und auf den Terrassen der Restaurants in Grindelwald und auf der Kleinen Scheidegg, da scharten sich die Menschen um die Fernrohre, die auf die Wand gerichtet waren.

Am 18. Juli schien das Wetter günstig. Beide Trupps, deutsche Alpinisten-Elite die einen, österreichische SA-Stürmer die anderen, entschieden sich, das Wagnis in Angriff zu nehmen. Voran die Österreicher, aber die Deutschen waren alpintechnisch raffinierter. Die Querung einer heiklen Stelle gelang Andreas Hinterstoisser mit einem eleganten Trick – noch heute trägt dieser Quergang seinen Namen.

Man kam erstaunlich schnell voran, schon am ersten Tag erreichten beide Gruppen das zweite Eisfeld, und sie entschieden sich, zusammen weiter zu klettern. Am nächsten Tag versperrten erst Nebel den Grindelwaldner Fernrohren die Sicht, und als die sich lichteten, offenbarten sie wenig Erfreuliches: Die vier Bergsteiger waren kaum weiter gekommen, einer war offensichtlich verletzt, und die Gruppe schien auf dem Abstieg zu sein. Tatsächlich hatte einer der Steine, die sich dauernd aus der Wand lösten, den Österreicher Willy Angerer am Kopf getroffen.

 

«Alles heil?»

Schon ganz am Anfang seines Librettos macht Tim Krohn auf suggestive Weise deutlich, wie unberechenbar und unheimlich die Gefahren von Steinschlag und Lawinen in der steilen Wand bei ständig wechselndem Wetter sind. Und im Kontext der Zeit klingt die Floskel «alles heil» mit der nach jeder überstandenen Gefahr die Gruppe sich der Unverletztheit versichert auch schon beklemmend unheimlich. Die Regisseurin Barbara-David Brüesch braucht nicht mehr als das Mobiliar des Restaurants und das Gerüst des Panorama-Fensters, dessen Holzverschalungen bei jedem tosenden Steinschlag mehr Ausschnitte der Nordwand preisgeben, um uns heranzuführen an die vier einsamen Menschlein in der gigantischen Felswand und an ihre Gedanken, die sich nicht erst als etwas schief geht, oft und intensiv um den Tod drehen.

Brüesch inszeniert souverän, lässt uns vergessen, dass wir nicht im geheizten Restaurant sitzen, sondern führt uns ganz nahe heran in die Gefahren der Steilwand und die Konflikte die sich nicht nur zwischen den beiden rivalisierenden Seilschaften, sondern zunehmend auch zwischen den Seilpartnern ergeben. Eine Prise makaberer Humor hat da durchaus auch Platz, aber das Drama zieht uns unweigerlich mehr und mehr in seinen Bann.

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© Suzanne Schwiertz / TOBS

Denn die düsteren Ahnungen bewahrheiten sich: Die Wolken brachten Schnee, blankes Eis überzieht die Felsen, der Rückweg ist versperrt, weil man das Seil im Quergang abmontiert hatte und die erneute Passage scheitert. Man muss mit direkt absteigen mit dem Verletzten, ist den Steinen und Lawinen ausgesetzt, und nach einer weiteren Nacht im Biwak reisst eine Lawine zwei der Bergsteiger mit, einer wird vom Seil erdrosselt, nur Toni Kurz überlebt. Ein Streckenwärter der Jungfraubahn kann Hilfe organisieren – und jetzt realisieren wir, dass es auf der Bieler Bühne jener ältere Wanderer mit Weinglas ist, in dessen Erinnerungen die Ereignisse von damals wieder wach werden.

Die Retter kommen nicht an Toni Kurz heran, ein Sturm zieht auf, isoliert muss er eine weitere Nacht in der Wand verbringen. Am nächsten Tag gelingt es, ein Seil zu ihm zu bringen. Aber es ist nicht lang genug: Toni Kurz muss zwei Seile zusammen knüpfen, der Knoten aber passt nicht durch den Karabinerhaken. Der Abseilversuch endet wenige Meter von den Rettern entfernt. Und dann schwinden auch die letzten Kräfte…

Dramatische Szenen waren es 1936. Die Erstbesteigung der Nordwand gelingt erst zwei Jahre später. Aber diese Geschichte des Scheiterns ist fast berühmter geworden, aufgrund ihrer tragischen Wendungen, gerade weil nur wenig Meter und einige fatale Zufälle die mögliche Rettung von Toni Kurz schliesslich scheitern liessen. Literatur und Film haben wiederholt von seinen letzten Stunden erzählt, zuletzt Philipp Stölzl 2008 in seinem Spielfilm «Nordwand».

 

Der Berg im Zentrum

Man könnte sich denken, dass ein Komponist gerade diese Dramatik dankbar in seine Musik einfliessen liesse. Aber so hat Fabian Müller seine «Eiger»-Musik nicht entworfen. Zwar gibt es emotionale Momente auch in diesem Überlebenskampf am Berg. Es gibt rührende Szenen wie die Liebessehnsucht nach der «Liesl» zuhause, die man nur schon deswegen kaum eingestehen kann, weil sie die Schwester des anderen ist. Es gibt die Lust auf Kuchen und Schokolade, weil man ja morgen Geburtstag hat. Und es gibt auch die Gedanken an Triumph oder Tod, die in Krohns Libretto zentrale Elemente darstellen, und die man als Komponist natürlich nicht komplett negiert.

Aber das Drama, das spielt sich hauptsächlich in den konzentriert auf den Punkt gebrachten Dialogen von Tim Krohn ab, die Müller fliessend zwischen Sprechen, Sprechgesang und Singen vertont und damit die Spannung permanent hoch hält. Von den vier Männern am Berg wird weniger vokale Akrobatik verlangt als dramatische Sprachgestaltung und schauspielerische Intensität, was Alexander Kaimbacher, Robert Koller, Wolfgang Resch und Jonathan Macker eindrücklich zum Ausdruck bringen, zudem oft in halsbrecherischen Positionen hoch über dem Bühnenboden.

Ein Abendlied von Liesl, an das man sich im Biwak erinnert, und die wortlose, weibliche Stimme eines Berggeistes, die den Schneesturm koloriert, sind die einzigen lyrischen Momente dieser Oper, die der Dirigent Kaspar Zehner eher als «sinfonisches Gedicht mit Gesang» beschreibt. Tatsächlich hat Fabian Müller diese Musik im Kern schon 2004 als Orchesterstück entworfen. Unter dem damals noch nicht weltberühmten Andris Nelsons wurde sie beim Musikfestival Interlaken uraufgeführt. Zehnder sieht eine Hauptschwierigkeit dieser Musik darin, nicht ständig nur mächtig und laut zu sein (siehe Interview unten). Das ist ihm bei der Premiere sehr gut gelungen, und die Musiker des Bieler Sinfonieorchesters erwecken die vielen verschiedenen Farben dieser Partitur sehr suggestiv zum Leben.

Diese Musik ist wie die Nordwand, und nicht jene, die friedlich in der Sonne glitzert, wenn man sie von der Bundesterrasse aus im Verbund mit Mönch und Jungfrau grüssen sieht. Sondern jene Wand, die 1800 Meter hoch aufragt, wenn man vor ihr steht, in der kalter Fels, blankes Eis und düstere Schatten eine unheimliche Symbiose eingehen. Man spürt die Faszination, die Müller für diesen Monolithen hegt, und das beste an seiner Musik ist, dass sie eine faszinierende, unwiderstehliche Schönheit entwickelt. Nicht die Schönheit von Dur-Dreiklängen oder süssen Alpenmelodien.

Aber wenn die Schneestürme mal nicht ganz so wild toben, klingt diese Musik manchmal fast wie impressionistische Pastellmalerei. Der melodische Gestus scheut keineswegs die schwelgerische Emphase und lässt vor allem die Streicher sehr gerne immer wieder ihre süsseste Klanglichkeit auskosten. Aber es gibt eine strikte Grenze: Diese Schönheit ist nicht gemacht, um zu gefallen. Es gibt kein Kalkül hinter dieser Musik. Sie ist einfach stark und schön, ohne jede Koketterie. Sie ist wie die Natur, wie die Berge: Majestätisch, unerbittlich, gleichgültig gegenüber den hilflosen Bemühungen dieser kleinen Wesen, die sich anmassen dieses Territorium zu erobern.

Und doch haben es unterdessen viele geschafft. Andere nicht: Über 70 Bergsteiger sind bisher an der «Mordwand» ums Leben gekommen. Die schliesslich erfolgreichen Erstbesteiger brauchten 1938 drei Tage, heute liegt der Nordwand-Rekord von Ueli Steck bei 2 Stunden 22 Minuten.

Reinmar Wagner

 

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Interview mit Kaspar Zehnder über die «Eiger»-Musik





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