«Das Wort Routine kenne ich nicht.»

Anne-Sophie Mutter stellt zusammen mit ihren «Virtuosi» auf einer ausgedehnten Europa-Tournee ein neues Auftragswerk der koreanischen Komponistin Unsuk Chin vor. Ihm zur Seite stehen Vivaldis «Jahreszeiten», Vivaldis Konzert für vier Violinen R 580 und das späte Streichquintett KV 614 von Mozart. In der Schweiz gibt es nur eine Station, am 5. November im Luzerner KKL.

© Bastian Achard

Die koreanische Komponistin Unsuk Chin hat immer wieder höchst virtuos für Instrumente und Stimme geschrieben. Wenn ein Werk von ihr «Gran Cadenza» heisst, darf man davon ausgehen, dass die geigerischen Schwierigkeiten auf die Spitze getrieben werden?

ASM: Ja, tatsächlich ist es ein virtuoser Wettstreit zwischen den beiden Sologeigen. Das Werk spielt mit der Tradition der Solokadenz als Plattform für unglaubliche technische Herausforderungen. Interessant war, dass mir meine koreanische Stipendiatin, mit der ich das Werk erarbeitet habe, noch mehr Details offenbart hat über die koreanischen Elemente in diesem Werk, mehr als die Komponistin in ihren Programm-Noten preisgegeben hat. Uns sind die koreanischen Instrumente regelrecht ins Ohr gestochen. Fragen haben wir noch bezüglich der dynamischen Vorgaben von Frau Chin, da gibt es Stellen, bei denen wir noch nicht wissen, wie sie funktionieren sollen.

Fragen, die man mit lebenden Komponisten ja noch klären kann.

ASM: Klar, aber die Bühne ist unser Spielfeld, und wir wollen schon von Anfang an selber herausfinden, was wir als Interpreten beitragen können, um das Werk in bestem Licht erscheinen zu lassen. Gerade Fragen von Tempo und Dynamik sind bei vielen Komponisten oft nicht ganz adäquat auf eine Aufführung zugeschnitten. Pierre Boulez hat einmal gesagt, dass das daran liegt, dass Komponisten in ihrem inneren Ohr viel schneller hören, als ihre Musik in der Aussenwelt funktionieren könnte. Man muss also bei einem neuen Stück – wie bei allem was man liest – die Möglichkeiten evaluieren, sich eigene Gedanken machen und als erfahrene Musiker auswählen, was im realen Raum funktionieren kann.

Gab es Ideen im Werk von Unsuk Chin, die technisch gar nicht ausführbar sind?

ASM: Vieles ist wahnsinnig schnell und oft flötenhaft. Chin schreibt ein Halb-Flageolett vor, was nichts anderes heisst, als dass man «sul ponticello» (auf dem Steg) spielt. Die beiden Geigen stehen oft einen Halbton nebeneinander. Der Reiz solcher Stellen liegt wohl mehr darin, eine Art Rauschen zu erzeugen, als dass jeder Ton wirklich einzeln angespielt werden soll. So muss man bei jeder neuen Komposition fragen, was als Geste oder Farbe gemeint sein könnte. Und ja natürlich hat man bei neuen Stücken den Komponisten zur Seite, der einen noch zurückpfeift, wenn man auf ganz falscher Spur ist.

Sie haben immer wieder Aufträge an die wichtigsten Komponisten der Gegenwart vergeben. Ihre Lust am Entdecken von neuen Klangwelten ist ungebrochen?

ASM: Natürlich ist meine Neugier ungestillt, auch wenn der zeitliche Aufwand, gerade wenn man jetzt ein Stück wie «Gran Cadenza» von Chin nimmt, sehr hoch ist. Ich hatte sehr viel Spass, die Filmmusik-Themen, die John Williams für mich arrangiert hat, mit ihm zusammen zu spielen und aufzunehmen. Jetzt warte ich auf eine Partitur von Thomas Adès, die ich eigentlich schon lange hätte erhalten sollen.

Ist es schon vorgekommen, dass Sie sich in einer Klangwelt oder einer Weise der Behandlung der Geige nicht oder nur schwer zurecht gefunden haben?

ASM: Ich habe bisher nur einmal ein Werk zurück gewiesen. Ich sage nicht von welchem Komponisten. Er hat es mir übel genommen und zehn Jahre nicht mehr mit mir gesprochen. Aber jetzt sind wir wieder Freunde. Was die Musik angeht, scheine ich ziemlich duldsam zu sein, ich bin jetzt eigentlich zu alt, um das Risiko einzugehen, mich mit einem Menschen zehn Jahre lang auszuschweigen.

Sie stellen der Virtuosität von Unsuk Chin die Virtuosität von Vivaldis «Jahreszeiten» gegenüber. Sie haben diese vier Concerti 1999 mit den Trondheimer Solisten aufgenommen und sich von den Farben des Malers Gotthard Graubner inspirieren lassen. Was ist davon geblieben? Sehen Sie diese Farben immer noch vor sich?

ASM: Ich sehe normalerweise keine Bilder. Aber natürlich sind Vivaldis «Jahreszeiten» ein Farbenrausch, allein durch seine Sonette, die Grundlage des Werkes sind. Eine Interpretation ist immer ein Mittelweg zwischen der eigenen Sicht, die auch klar begründet sein muss, und dem historischen Konzept der Entstehungszeit eines Werks. Da bleibt immer noch viel Spielraum. Aber ein Sturm bleibt ein Sturm. Der kann nicht weich gespült werden. Wenn man sich bemüht, unter die Oberfläche zu schauen, entdeckt man doch immer wieder Neues. Die eisigen Winterwinde zum Beispiel koloriere ich jetzt mehr mit dem Spiel «sul ponticello», auch wenn Vivaldi dies nicht immer explizit schreibt. Und gerade mit dem Cembalisten Knut Johannessen, mit dem ich schon lange zusammen spiele, ergibt sich immer wieder von neuem ein lebendiger Dialog in der Ausgestaltung des Basso continuo.

Gerade in der Verzierungspraxis des Generalbasses hat man in den letzten Jahrzehnten grosse Fortschritte gemacht. Wieviel Erkenntnisse der historische Aufführungspraxis fliessen in Ihre Interpretationen ein?

ASM: Das Konzert für vier Violinen von Vivaldi werden wir mit Kopien von Barock-Bögen spielen, was eine ganz andere Klanglichkeit ergibt und uns auch ermöglicht, die originalen Bogenstriche von Vivaldi zu verwenden und damit den tänzerischen Charakter zu verstärken. Und wir werden in diesem Stück ganz auf Vibrato verzichten, damit werden die Verzierungen auf lang ausgehaltenen Tönen besonders wichtig. Als Stil- und Ausdrucksmittel haben wir seit Vivaldis Zeiten das Vibrato hinzu gewonnen. Deswegen muss man in dieser Musik immer eine gute Balance zwischen Vibrato und Verzierung finden.

Ein sehr bewusster Umgang mit dem Vibrato als Stilmittel also?

ASM: Der Umgang mit Vibrato ist bei mir immer ein sehr bewusster. Ich war noch nie ein Streicher, die sein Vibrato abends um acht anstellt und um zehn wieder ausschaltet. Sondern ich überlege mir bei jedem Ton, wie ich Vibrato einsetze, wie ich es aufblühen lasse, oder auch nicht. «Senza vibrato» ist ein sehr schönes und wichtiges Mittel, um mache Passagen ganz speziell zu beleuchten. Beim Konzert für vier Violinen werden wir kein Vibrato einsetzen, weil es das Werk nicht verlangt. Der langsame Satz ist sehr kurz, den kann man mit Ornamenten auf den lang gehaltenen Tönen sehr schön ausschmücken. Bei den «Jahreszeiten» hingegen, mit dem modernen Instrumentarium in den grossen Konzertsälen, sind wir dann ganz im 21. Jahrhundert angekommen.

Spielen eigentlich immer dieselben vier Solisten aus ihrem «Virtuosi»-Ensemble die Solopartien in diesem Vivaldi-Konzert?

ASM: Nein, gar nicht. Ich wollte möglichst alle gerecht einsetzen. Im Streichquintett von Mozart haben wir vier Besetzungen, aber wir wechseln nicht jeden Abend, das würde zu viel Unruhe mitbringen. Aber bei Vivaldi spielen jedes Mal drei andere Geigen. Und auch im neuen Werk von Unsuk Chin spiele ich mit sechs verschiedenen Partnern zusammen.

Also allein dadurch wird keine Routine entstehen können.

ASM: Das Wort Routine kenne ich nicht, weder beim Kochen noch beim Musizieren.

Sie sind bekannt für lange Tourneen mit demselben Programm. Auch diesmal sind Sie zusammen mit Ihrem Orchester über drei Wochen unterwegs, spielen fast jeden Abend. Wie beugt man dabei der Gefahr von Tournee-Koller vor?

ASM: Das ist wie bei Roger Federer: Wenn der sich zwei Wochen lang durch ein Grand Slam-Turnier spielt, ergibt sich ein Spielfluss, und das ist etwas enorm Positives. Wenn man sich selber einmal gefunden hat, dann kann man auch noch viel mehr gestalten auf einer solchen musikalischen Reise. Da kommt keine Ödnis oder Routine auf. Nur schon die äusseren Umstände sind jeden Tag neu: Die Säle sind anders, man selber ist anders, empfindet anders, hört neu oder muss sich vielleicht besonders bemühen, weil die Tagesform gerade nicht so gut ist. Federer schlägt auch nicht bei jedem Aufschlag ein Ass. Wir sind ja keine Maschinen, und das macht eine solche Tournee zu einer grossen Herausforderung, nicht weil man sich bemühen muss, nicht routiniert zu klingen, sondern weil man natürlich das Niveau der Interpretation womöglich jeden Abend noch steigern will.

Wieviel Raum für Freiheiten gibt es dabei? Sie sind ja eigentlich eher bekannt dafür, gerne die Kontrolle zu behalten.

ASM: Wir wissen genau, was wir tun. Wir bringen natürlich nichts Unfertiges auf die Bühne, das wir vor dem Publikum ein wenig ausprobieren. Natürlich haben wir hoffentlich soweit wie möglich die Kontrolle über unser Instrumentarium. Das Wort Kontrolle ist sehr negativ besetzt. Kontrolle hat für mich etwas mit Meisterschaft zu tun, mit der Möglichkeit, dass ich von dem hohen Niveau der technischen Meisterschaft aus neue Klangwelten erforschen und neue Wege der Interpretation gehen kann. Wenn man es so versteht, dann kann ich mit diesem Wort gut leben. Wenn man es aber versteht als das dogmatische Nachbeten einer Interpretation, dann wäre es der Tod der Musik.

Interview: Reinmar Wagner

 

Migros-Kulturprozent-Classics

Mutter’s Virtuosi 

Anne-Sophie Mutter (Violine und Leitung)

 

Unsuk Chin: Gran Cadenza (Uraufführung)

Vivaldi: Le Quattro Stagioni

Vivaldi: Concerto für vier Violinen, Cello, Streicher und Basso continuo RV 580

Mozart: Streichquintett Es-Dur, KV 614

 

Luzern, Konzertsaal KKL, 5. November 2021, 19.30 Uhr

MUSIK & THEATER Die Schweizer Kulturzeitschrift

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