Raus aus dem Elfenbeinturm
Der Schweizer Dirigent Titus Engel ist ab dieser Saison «Principal Conductor» der Basel Sinfonietta. Diesen Sonntag dirigiert er zur Saison-Eröffnung das Orchester in einem gross besetzten Programm mit Big Band und Chor. Ein Gespräch.

Titus Engel, Sie haben dasselbe Programm gerade bei der Ruhrtriennale gespielt. Wie ist es angekommen?
Es sind drei ganz unterschiedliche Werke, und schon das erste, Sofia Gubaidulinas «Revuemusik» für Jazzband und Sinfonieorchester, kam sehr gut an. Man würde von ihr ein solches Werk kaum erwarten, aber es ist ein Juwel, unglaublich feinsinnig, kontrastreich und auch witzig. Unser Auftrag an Michael Wertmüller ist so heraus gekommen, wie man das erwarten konnte: Komplexe Rhythmen, improvisatorische Freiheiten und sehr viel Energie. Es gab Applaus nach jedem Satz. Und «TRIO» von Simon Steen-Andersen ist ein Multimedia-Spektakel mit Big Band, Chor und Video, in dem er Filmschnipsel aus dem SWR-Archiv zu Musikthemen geschnitten und neu montiert hat.
Bei so grossen Besetzungen besteht die Aufgabe des Dirigenten vermutlich darin, ein zuverlässiger Koordinator zu sein?
Auch das ist unterschiedlich: Bei Gubaidulina gibt es viele Schichten von Klangfarben, die man sehr fein aushören und tarieren muss. Bei Wertmüller geht es schon um rhythmische Koordination, aber auch um die Balance: Eine Big Band ist zwar kleiner besetzt als ein Sinfonieorchester, aber mit vier Trompeten und vier Posaunen können die ganz schön laut sein. «TRIO» ist vor allem eine Konzentrationsleistung von allen Beteiligten. Jedes Ensemble hat seinen eigenen Dirigenten und wir tragen Klick Tracks im Ohr weil die Musik natürlich genau auf die Videoprojektion abgestimmt sein muss.
Würden Sie ein Programm wie dieses als persönliche Visitenkarte betrachten?
Ich bin stilistisch vielseitig interessiert, aber etwas was auch in meine Jugend zurückgeht, ist die Faszination für Jazz. Als Kind habe ich erst Geige gespielt und bin dann auf den Kontrabass umgestiegen. Da hat man den Vorteil, dass man sehr gefragt ist. Ich habe also im Schulorchester mitgemacht, Jazz gespielt, Bach-Motetten begleitet. Und dadurch bin ich auch auf den Geschmack dieser Verbindung von Jazz und neuer Musik gekommen, wie es etwa Gunther Schuller oder Charles Mingus versucht haben. Das Pulsierende im Jazz ist ein Element, das der neuen Musik oft fehlt. Was sie für viele Hörer so schwierig macht, ist nicht einmal so sehr die Atonalität, sondern die Auflösung des Pulses in der seriellen Musik. Dadurch wurden diese Stücke schwer verdaulich.
Die Sinfonietta ist ein basisdemokratisch organisiertes Orchester. Sie wurden von den Mitgliedern zum Nachfolger von Baldur Brönnimann als «Principal Conductor» gewählt. Womit haben Sie überzeugt?
Wir hatten vor ein paar Jahren ein gemeinsames Projekt und da haben wir uns, glaube ich, schon sehr gut verstanden. Wie man probt, arbeitet und kommuniziert hat nicht nur eine fachliche, sondern auch eine emotionale Ebene. Ich habe mich über diese Wahl sehr gefreut, und kann so mit einem sehr guten Gefühl starten, wenn ich weiss, dass wirklich eine Mehrheit des Orchesters dahintersteht und nicht irgendein Kulturstaatssekretär.
Wieviel Einfluss auf die Programme haben Sie in einem Orchester mit sehr viel Mitspracherecht?
Es besteht ganz klar der Wunsch, dass ich mich einbringe in die Programm-Arbeit, und ich habe auch viele Ideen dafür. Die Geschäftsführung und zwei Orchestermitglieder sitzen mit mir in der Programmkommission. Es ist wie Schweizer Demokratie: Entscheidungen werden gemeinsam gefällt, und alle stehen dann dazu, auch wenn sie eine andere Meinung gehabt hatten. Wichtig ist mir, dass wir die grosse Bandbreite der zeitgenössischen Musik wirklich präsentieren, in einer Mischung von sehr sinnlicher, einfach zugänglicher, mitreissender Musik, bis zu tiefsinnigen, komplizierteren oder wirklich avantgardistischen Werken.
Was möchten Sie bei der Sinfonietta an neuen Ideen einbringen?
Ich kann mir vorstellen, das klassische Konzertritual ein wenig aufzubrechen mit szenischen Elementen, mit neuen Räumen, auch nach draussen in die Stadt zu gehen und mit interessierten Gruppen aus Amateur-Ensembles oder Migranten gemeinsam zeitgenössische Musik zu erleben und diese damit ein wenig aus dem Elfenbeinturm der künstlerisch interessierten Bourgeoisie heraus zu holen. Auch Education-Programme funktionieren meiner Erfahrung nach sehr gut, wenn sich die Menschen einbringen können. So ergeben sich tiefere und prägendere Beziehungen, als wenn man einfach Schulklassen ins Konzert einlädt, was man natürlich auch tun soll. In unserem letzten Abo-Konzert im Juni werden wir zum Beispiel ein Stück von Cathy Milliken spielen, bei dem das Publikum Steine mitbringen und akustisch mitmachen soll.
Spezialisten-Ensembles für zeitgenössische Musik gibt es viele, was die Sinfonietta auszeichnet ist ihre Möglichkeit sehr grosse Besetzungen dafür anzubieten.
In Europa ist die Sinfonietta wirklich das einzige Sinfonieorchester, das sich auf zeitgenössische Musik spezialisiert hat. Das macht uns natürlich auch attraktiv für die Komponistinnen und Komponisten. Wir werden oft ins Ausland eingeladen wie jetzt zur Ruhrtriennale. Wir sind ein Leuchtturm für Basel und für die ganze Schweiz. Basel ist sehr offen für ein solches Orchester, und ich habe mich hier immer sehr wohl gefühlt.
Reinmar Wagner
Konzert: Sonntag 1. Oktober, 19.00 Uhr, Sportzentrum Pfaffenholz in St. Louis (Tram 3 Burgfelderhof)