Fast zu schön, um von heute zu sein
Anne-Sophie Mutter hat in Luzern ein Violinkonzert von Thomas Adès uraufgeführt

Es beginnt ganz zart, mit Glöckchen und den Flageoletts der ersten Geigen. Und es beginnt ganz schlicht: Mit einem diatonisch fallenden Viertonmotiv, das zur Keimzelle des ganzen Werks wird. Weitere Instrumente fallen kanonisch damit ein, erweitern es ein wenig, und fast ummerklich greift auch die Sologeige ins Geschehen ein. Unbeirrt singt sie ihre schlichten Linien in höchsten Höhen, bis zum Schluss. Rasche Bewegung gibt es kaum, bloss auf das Vibrato soll sie kurz mal verzichten. Auf fast schon barocke Art kontrapunktieren die übrigen Instrument diese ostinate Melodie. Absoluten Seltenheitswert haben eruptive Ausbrüche und Akzente.
Es hat schon einmal ein Komponist Anne-Sophie Mutters strahlend schönen Geigenton in höchsten Höhen auf ähnliche Weise zelebriert, wie es Thomas Adès hier tut: Wolfgang Rihm 1992 ebenfalls in Luzern in seinem Konzert «Gesungene Zeit». Aber derart konsequent auf jegliche geigerische Virtuosität hat auch Rihm damals bei weitem nicht verzichtet. Das 15minütige Konzert von Thomas Adès ist fast zu schön um von heute zu sein. Es wirkt fast wie ein langsamer Satz aus einem Konzert in traditioneller Satzfolge. Nicht umsonst hat der britische Komponist es «Air» genannt.
EsEr schrieb es nicht nur für Anne-Sophie Mutter, sondern auch im Rahmen der «Roche-Commissions», mit denen der Pharmakonzern seit 2003 eine nunmehr stattliche Werkreihe bei den renommiertesten Komponisten und Komponistinnen der Gegenwart in Auftrag gab und in Rahmen des Lucerne Festivals zur Uraufführung brachte. Adès ist nicht nur ein ausgezeichneter Pianist, er hat unterdessen auch als Dirigent seine hohe Kompetenz bewiesen, und so lag nahe, dass er sein neues Violinkonzert bei der Uraufführung am Samstag in Luzern auch selber dirigierte.
Es auf das subtile Austarieren der Dynamik hatte er dabei nicht so viel zu tun. Das war anders in den übrigen Werken des Abends. In der «Traumspiel»-Musik von Per Norgard erkundete Adès die bisweilen richtig feierlichen Klänge mit Sensibilität, in Strawinskys spätem «Agon»-Ballett, einer vielseitigen und in ihrer Kleinteiligkeit auch amüsanten Sammlung von virtuosen Studien für einzelne Orchesterinstrumente oder für ungewöhnliche Kombinationen von ihnen, rollte er den höchst motivierten Musikern den Roten Teppich aus.
EsUnd im letzten Stück des Abends, in Lutoslawskis effektvoller dritter Sinfonie entfesselte er ungeniert eine hemmungslose Klang- und Lärmorgie, auf die sich die jungen Mitglieder des Lucerne Festival Contemporary Orchestra nur allzu gerne einliessen. Dieses 2021 gegründete Orchester ist aus der Festival-Akademie, die Pierre Boulez gründete, hervorgegangen und beschäftigt sich mit den Kompositions- und Spieltechniken der Gegenwart. Es ist beim Lucerne Festival ein wichtiger Teil der Konzeption und hat jeweils im Herbst sein eigenes «Forward»-Festival.
Reinmar Wagner