Violetta ist Mutter

Nina Russi inszeniert Verdis «La Traviata» in St. Gallen. Die Bühne ist ein nacktes Gerüst und das Ensemble bietet teilweise begeisternden Verdi-Gesang.

Violetta (Vuvu Mpofu) mit Tochter und dem Vater ihres Geliebten (Kartal Karagedik).
Bilder © Ludwig Olah / Theater St. Gallen

Wer Verdis «Traviata» inszeniert und die Titel-Figur als moderne heutige Frau zeigen will, steht vor einem grossen Problem: Eine solche Frau würde sich niemals vom Vater ihres Geliebten überzeugen lassen, nur wegen der Familienehre auf ihre Liebe zu verzichten. Nina Russi, junge Schweizer Regisseurin, will Violetta aber genau so zeigen, und fand dafür einen ganz brauchbaren Kniff: Ihre Violetta nämlich ist eine alleinerziehende Mutter und hat eine Tochter, für die sie eine Familie braucht, weil sie schon zu Beginn der Oper weiss, dass sie bald sterben wird.

So kann man nachvollziehen, dass sie den Bitten von Vater Germont nachzugeben bereit ist, Russis Idee überzeugt. Weniger ansprechend dagegen ist ihre Inszenierung im Allgemeinen. Zwar schafft sie eine ganz nette Party für den ersten Akt, das Fest im dritten ist dann nicht mehr so berauschend – was auch daran liegen mag, dass die Probenarbeit Pandemie-bedingt sehr turbulent verlaufen sein muss und man Chorsängerinnen und -Sänger bei befreundeten Theatern ausleihen musste, teilweise sogar aus dem Ausland.

Wenig anfangen konnte Russi mit dem Bühnenbild von Julia Katharina Berndt: Ein riesiges rundes Gerüst, das sich auf Rollen drehen lässt und den ganzen Abend hindurch auch praktisch ununterbrochen Karussell fährt. Es soll dem der Besuchertribüne nachempfunden worden sein, von der aus man im Park von Schloss Pillnitz bei Dresden einen der ältesten Kamelienbäume der Welt bewundern kann. Nun ja, die Geschichte der «Traviata» hat Verdi bekanntlich von Dumas‘ «Kameliendame» entliehen – aber mit diesem Verweis man noch keine handwerklich gelungene Personenführung auf die drei Etagen gezaubert.

Daran fehlt es nämlich vor allem: Viel zu oft stehen die Personen einfach irgendwo auf oder neben dem Gerüst, nur selten – Violettas Rückblick auf ihr Leben am Ende ist eine Ausnahme – kann die Konstruktion zu einem tieferen Sinn beitragen oder mehr sein als eine beliebige Plattform für Auftritte. Oben und Unten ergeben kaum Sinn und die diversen Kraxeleien sorgen auch eher selten für szenisch brauchbare Aktionen.

Immerhin durften die Protagonisten in dieser Anlage fast immer schön direkt ins Publikum singen, was sie gerne für stimmliche Show-Momente, aber auch phasenweise für begeisternden Verdi-Gesang nutzten. Die aus Südafrika stammende Sopranistin Vuvu Mpofu liess sich zu Beginn der Premiere zu ein paar wenig geschmeidigen forcierten Tönen hinreissen, zeigte einige abenteuerliche Koloraturen, wurde bald aber immer besser und bezauberte schliesslich am Ende vor allem mit ihren sehr warmen, runden, immer tragfähigen aber auch immer wieder schön aus dem Piano heraus gestalteten Linien.

Beim Italiener Francesco Castoro als Alfredo blieben ebenfalls manchmal Wünsche offen: Auch er fand im Einsatz von stimmlicher Potenz nicht immer die passende Dosierung, manchmal irritierten plötzliche raue Farben und sein etwas flackerndes Vibrato, andererseits gelangen ihm auch prächtige Spitzentöne und das angenehme helle Timbre seines Tenors sorgte für manche gelungene Phrase. Bei Kartal Karagedik als Vater Germont vermisste man stellenweise die stimmliche Noblesse, die in dieser Partie wünschenswert wäre. Manches gestaltete der Bariton aus der Türkei mit unnötig viel dramatischem Gewicht.

Der St. Galler Chefdirigent Modestas Pitrenas konnte die kaum fertig einstudierten Chöre auch nicht nachhaltig zur Präzision anleiten, das Orchester aber hatte er stets im Griff, pflegte ein Verdi-Klangbild, das nichts von der effektvollen Partitur verschenkte, das auch deren zarte und leise Seiten ausmalte, und hielt die Tempi in sinnvollen Relationen.

Reinmar Wagner

Verdi: «La Traviata». Theater St. Gallen, Premiere am 19. März 2022, weitere Vorstellungen bis 9. Juni 2022. ML: Modestas Pitrenas, R: Nina Russi, mit Vuvu Mpofu, Francesco Castoro, Kartal Karagedik (wechselnde Besetzungen).

MUSIK & THEATER Die Schweizer Kulturzeitschrift

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